Ehrenwort

Autor: Ingrid Noll
Verlag: Diogenes
Umfang: 336 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Drei Generationen unter einem Dach: Student Max, die Buchhändlerin Petra, Ingenieur Harald und Willy Knobel, hochbetagt. Trautes Heim, Glück allein? Zwischen Maxiwindeln und mörderischer Eisenstange spielt diese bitterböse Kriminalkomödie. Ingrid Noll erzählt von einer Familie, die das Altern anpackt – auf unkonventionelle Art.

Leseprobe aus »Ehrenwort«

Am folgenden Abend schlief der Alte schon, und es bot sich keine Gelegenheit für einen Schlummertrunk. Sonntagabend aber nahm er die Kopfhörer ab, die ihm Max aus dem eigenen Fundus zur Verfügung gestellt hatte, und sah seinen Sohn etwas kläglich an.

»Sic transit gloria mundi«, sagte er. »So vergeht die Herrlichkeit der Welt! Heute ist mir ein bisschen elend zumute.«
»Ein Gläschen Cognac, und die Welt sieht wieder besser aus«, meinte Harald und schwenkte das bereits gefüllte Glas.
»Stell es auf den Nachttisch«, sagte Willy Knobel. »Ich warte noch, bis die Nachrichten zu Ende sind.«

Und damit setzte er die Kopfhörer wieder auf und nahm keine Notiz mehr von seinem Besucher. Harald verließ den Raum, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, wenn sein Vater den Schierlingsbecher in seiner Gegenwart geleert hätte.

Bevor er selbst ins Bett ging, öffnete Harald noch rasch die Tür des Krankenzimmers und spähte hinein. Es war stickig und dunkel im Raum, sein Vater atmete tief und schlief wohl fest, soweit man das ohne Beleuchtung feststellen konnte. Anscheinend lief alles nach Plan. Tabula rasa, dachte Harald, so viel Latein kann ich auch. Und wie war noch das Ende beim König von Thule? – Trank nie einen Tropfen mehr.

Am nächsten Morgen musste er früher als sonst aus dem Haus, weil er einen Termin in der nächsten Kreisstadt hatte. Zu seiner Verwunderung wirtschaftete Max bereits in der Küche herum: Auf Petras heiligem Silbertablett standen eine Tasse Kaffee, ein Marmeladenbrötchen, Milchkännchen, Zuckerdose, der Salzstreuer und ein gekochtes Ei.

»Für Opa«, sagte er. »In letzter Zeit nimmt er bestimmt zu, denn er verdrückt fast mehr als ich.«
Damit ist es jetzt vorbei, dachte Harald. Für dieses Frühstück wird ihn hoffentlich keiner mehr wachkriegen. Und sonst musste man die Dosis eben erhöhen. Wenn Max jetzt gleich auf eine Leiche stieß, sollte er das als künftiger Altenpfleger ja noch verkraften.

Harald steckte noch schnell einen Apfel in die Aktentasche und verließ das Haus.
Petra hatte es nicht so eilig, der Laden öffnete erst um neun. Kurz bevor sie startete, traf sie auf Schwester Kriemhild, deren Ankunft nicht zu überhören war. Aber immer noch besser als Jennys lautloses Anschleichen.

»Mein Sohn soll heute die Fleece-Anzüge besorgen«, sagte sie. »Ich denke, im Sanitätshaus wird man solche Artikel erhalten.«
»Und in jedem guten Wäschegeschäft«, sagte die Schwester und stapfte die Treppe hinauf.

Willy Knobel hatte das Brötchen nur angebissen, das Ei mochte er schon gar nicht anrühren. Als es klopfte, knurrte er: »Domina ante portas!«
Die Pflegerin nahm das Tablett vom Nachttisch.
»Sie haben ja kaum etwas gegessen! Kein Appetit? Und was ist mit dem Glas?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Tun Sie’s weg«, sagte er. »Das ist von gestern. Mein Sohn hat es hier stehengelassen. Leider muss ich jetzt ganz dringend auf den Thron!«
Während er sich auf dem Toilettenstuhl abmühte, hängte die Schwester seine Bettdecke zum Lüften über das Balkongeländer, trug das Tablett aus dem Zimmer und stellte es im Flur auf die dunkle Eichentruhe. Schließlich lobte sie den Alten wie ein Kleinkind, zog ihm frische Windeln und einen Bademantel an und ermunterte ihn, am Rollator quer durch das Zimmer zu laufen.

»Wahrscheinlich habe ich gestern zu viel gegessen«, sagte der Alte, dem kalter Schweiß auf der Stirn stand. »Mir ist ein bisschen übel.«
Also lag er schnell wieder im Bett und starrte mutlos an die Decke. Schwester Kriemhild wünschte gute Besserung, tätschelte ihm den Bauch und verabschiedete sich. Im Flur stand das Tablett mit dem fast unangetasteten Frühstück. Schade um den Cognac, dachte sie und kippte ihn hinunter.
Am späten Vormittag fragte Max den Großvater nach seinen Wünschen. Inzwischen hatte er im Supermarkt ein breites Angebot an Fertiggerichten entdeckt.
Er wollte dem Opa gern eine Freude machen. Nur durch ihn hatte er schließlich Jenny kennengelernt. Sie hatte immerhin bei einer anrührenden Filmszene seine Hand ergriffen und die ganze Zeit nicht mehr losgelassen.
»Junge, heute lassen wir das Mittagessen lieber ausfallen«, sagte der Großvater. »Mir ist ein bisschen schlecht. Vielleicht schlafe ich einfach noch eine Runde.«
Max war es recht. Er würde jetzt die Fleece-Anzüge und die bewährten Puddingbecher besorgen, das Zeug rutschte anscheinend besser als alles andere hinunter. Als er später eine erneute Visite machte, war sein Großvater offensichtlich leicht verwirrt.

»Ilse war noch gar nicht hier«, sagte er, »sie sucht wohl wieder ihre Katze.«
Max sagte nichts dazu.
»Sie hat es ja schwer, meine Ilse«, sagte der Großvater. »Sie liebt ihren Tiger, und sie liebt Vögel. Kann das gutgehen?«
»Opa, es gibt unendlich viele Vögel. Wenn die Katze mal einen Spatz erwischt, geht die Welt nicht unter.«

Den Rest des Tages brachte Max mit Computerspielen rum. Er war allerdings nicht bei der Sache, sondern dachte nur an Jenny. Auch sein Vater machte sich neuerdings Gedanken, rief an und erkundigte sich beiläufig nach dem Alten.

»Er spinnt ein bisschen und fragt nach Oma«, sagte Max. »Und ausnahmsweise hat er keinen Appetit. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, völlig harmlos.«
Harald wollte es so einrichten, dass er gleichzeitig mit der blonden Pflegerin eintraf. Er freute sich darauf, von Jenny angestrahlt zu werden. Fast ein bisschen schade, wenn ihre Besuche demnächst wegfielen! Der Alte hatte anscheinend eine Bärennatur, wenn er nach einem derart gewürzten Schlaftrunk bloß ein wenig halluzinierte und keinen Hunger hatte. Zwar war Harald etwas enttäuscht über das fehlende Resultat der CognacMethode, aber längst noch nicht entmutigt.

Natürlich konnte eine Pflegerin nicht immer pünktlich kommen. Mal musste ein Patient außer der Reihe gewaschen oder gebadet werden, mal gab es ein Gespräch mit den Angehörigen, oder ein Kranker brauchte Hilfe beim Essen. Andererseits fielen treue Stammkunden plötzlich weg, weil sie in der Klinik oder gar auf dem Friedhof gelandet waren. Harald musste sich damit abfinden, dass der Firmenwagen noch nicht dastand, als er zu Hause ankam. Auf keinen Fall wollte er vor der Tür herumlungern und auf Jenny warten. Was sollte Petra davon halten, mit der in letzter Zeit sowieso nicht gut Kirschen essen war.

Als die Haustür schließlich leise geöffnet wurde, stürzten Vater und Sohn aus verschiedenen Richtungen hervor, um die Ersehnte zu begrüßen.
Jenny weinte.
Harald legte tröstend den Arm um die junge Frau, Max stand ratlos daneben.
»Na, was ist denn los?«, fragte Harald. »Fix und fertig? Kann es sein, dass Sie dringend Urlaub brauchen?«
Jenny schniefte. »Die Kriemhild«, brachte sie heraus.
»Was ist los mit ihr?«
Nun erfuhren sie, dass die Kollegin einen Autounfall gehabt hatte und schwerverletzt im Krankenhaus lag.

»Heute Morgen ist es passiert«, schluchzte Jenny. »Auf dem Rückweg von euch ist sie mit einem LKW kollidiert. Es muss ganz schlimm gekracht haben!« 

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