Engel lachen immer länger
Autor: Thomas C. Brezina
Verlag: Schneiderbuch / Egmont
Umfang: 208 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Schneiderbuch verlegt durch Egmont Verlagsgesellschaften mbH
Die große Schulparty steht vor der Tür, doch zumindest zwei der drei Freundinnen Vicky, Gloria und Nessa haben keinen Schimmer mit welchem Jungen sie dort hingehen sollen. Vicky hätte da schon eine Idee, eigentlich sogar zwei: leider ist der eine ein Engel und der andere nur schwer fassbar und irgendwie gefährlich. Außerdem gibt es wichtigeres als Schulpartys und geheimnisvolle Jungen mit beunruhigend schönen Augen, findet sie. Ihre nagelneue Liebesagentur zum Beispiel und ihr nächster Auftrag als Ersatzengel im Einsatz.
Leseprobe aus »Engel lachen immer länger - Wilde Wahnsinnsengel (Bd. 2)«
Nur nicht rot werden
„Ich muss nach Hause. Sonst krieg ich Ärger.“ Vicky seufzte bedauernd. „Ich würde viel lieber bei dir bleiben.“
„Wieso?“ Er musterte sie mit seinen strahlend blauen Augen.
„Weil ich ...“ Vicky stockte und spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Bestimmt wurde sie gerade knallrot, und das war fast noch peinlicher, als seine Frage zu beantworten.
War ihre Röte nicht schon Antwort genug?
Um von ihrem Gesicht abzulenken, tat sie, als müsse sie ihre Frisur bändigen und spielte mit den kurzen Haaren, die wild vom Kopf abstanden.
„Möchtest du nicht zu deinen Freundinnen?“, fragte er sie. Seine Stimme konnte so wunderbar sanft klingen.
„Nessa und Gloria habe ich heute ohnehin schon dreimal gesehen: In der Schule, dann beim Treffen für den Schulball und später waren sie noch bei mir. Wegen den Wilden Wahnsinnsengeln.“
„Mit wem wird Gloria auf den Schulball gehen?“
Vicky lachte. „Mit Mike, Mister Einstein Junior. Er redet ständig über Physik, Matheformeln und Computer. Gloria findet das aufregend, obwohl sie kein Wort versteht.“
Er lächelte. Gloria hatte er noch nicht oft gesehen, aber von Anfang an gemocht. Sie war immer so unbefangen und fröhlich.
„Und Nessa?“
„Ach, Nessa ...“ Vicky, die mit verschlungenen Beinen im Gras saß, streckte sich. „Nessa macht es den Jungen nicht gerade leicht. Ich glaube, sie wirkt ein bisschen abschreckend auf die meisten.“
Das lag weniger an Nessas molliger Fülle als an ihrer Art. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und sagte jedem, was sie gerade dachte. Besonders schonungslos konnte sie sein, wenn sie mal wieder wegen einer Diät nur an Karotten- und Gurkensticks knabberte.
Sein Blick bekam etwas Prüfendes. „Und du?“ Zum zweiten Mal wurde Vicky rot. Gute Frage. Mit wem würde sie den Schulball am Samstag besuchen? Da gab es Ronaldo aus der 10 c, der sich für Vicky interessierte. Er hatte sich bei den Wilden Wahnsinnsengeln nach ihr erkundigt, aber sie hatte keine rechte Lust.
Der Grund war ER. Vicky konnte nicht anders. Sie musste an ihn denken. Immer wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn: das gewellte dunkle Haar, die leicht gebräunte Haut, das offene weiße Baumwollhemd und das schwarze Jackett, das er über der Schulter trug, lässig an einem Finger aufgehängt. Sie glaubte, seinen feinen Duft noch immer in der Nase zu haben: frisch und würzig wie eine Meeresprise.
„Hallo, ich bin noch da“, brachte sich Vickys Gesprächspartner in Erinnerung.
Vicky riss sich aus der Tagträumerei. „Ja? Ja, was?“ „Sag schon! Mit wem gehst du zum Schulball?“ „Ich habe mich noch nicht entschieden.“ „Gibt es so viele Bewerber?“
Vicky lachte auf. Bewerber! Wie das klang. In Wahrheit gab es keinen einzigen, der wirklich in Betracht kam. Das war ihr größtes Problem. Der, an den sie gerade hatte denken müssen, war vielleicht sogar ganz nah und trotzdem unerreichbar. Sie fühlte sich so schäbig, weil sie an einen Jungen dachte, mit einem zweiten redete und nach einem dritten suchte.
„Vicky? Verheimlichst du mir etwas?“
„Nein“, sagte sie schnell. Sie schrie es fast, als hätte er sie irgendwie ertappt. Jetzt nur nicht schon wieder erröten!
„Es ist verführerisch, mit dem Feuer zu spielen“, fuhr er warnend fort. „Und es ist so leicht, sich zu verbrennen.“
Stärker als je zuvor fühlte Vicky, wie zerrissen sie war. Denn im Augenblick hatte sie wirklich nur den Wunsch, hier im Moos neben ihm liegen zu bleiben, seine kühle Wange zu berühren, über sein Haar zu streichen. Aber nur heimlich und ganz leicht.
In seiner Nähe fühlte sie sich sicher. Nach all den Veränderungen und Entwicklungen in letzter Zeit sehnte sie sich nach Sicherheit und Ruhe. Sie war dreizehn und schon mehr als genug mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Was kürzlich dazugekommen war, überforderte sie einfach.
„Was hast du heute noch vor?“, wollte er wissen.
„Nichts Spezielles. Nur nach Hause gehen und vielleicht ein bisschen mit Mimutschka reden. Sie hat einen Großauftrag für Wassermelonengesichtscreme und ihre selbst gemachte Seife bekommen. Seitdem riecht es in unserem Haus überall nach Wassermelone, und in der Küche stehen große Töpfe, in denen Seife kocht.“
Eine Weile schwiegen sie beide. In den Baumkronen über ihnen gaben ein paar Vögel ein entspanntes kleines Nachtkonzert.
„Es ist Zeit, für dich aufzubrechen!“ „Schickst du mich fort?“ „Du musst heim. Es ist fast neun Uhr.“ Die Sommernacht war nicht nur warm, sondern auch hell. Sie hatte Vicky die Zeit vergessen lassen. Vicky küsste ihre Fingerspitzen und berührte mit ihnen sanft seine Stirn. Nachdem sie aufgestanden war und die Beine ausgeschüttelt hatte, sah sie noch einmal zu ihm. Er zwinkerte ihr zu und lächelte auf seine stille Art. Sie erwiderte sein Lächeln, drehte sich dann mit einem Ruck um und verließ den kleinen Park, der früher einmal ein Friedhof gewesen war. Er blieb zurück. Sein Kopf ruhte auf einem Kissen aus Moos. Der Körper lag einen ganzen Schritt entfernt, gestützt auf einen Flügel, der aus dem Schulterblatt wuchs. Der andere Flügel war wie der Kopf abgebrochen. Verstreut auf dem Boden lagen auch die Arme und Beine in Trümmern.
Das jungenhafte Gesicht der Statue, das weich und lebendig war, solange Vicky sich in der Nähe befand, wurde zu einer harten, matt glänzenden Oberfläche. Die vor wenigen Momenten noch so lebhaften Züge erstarrten. Die dunklen Lider hatten sich über den blauen Augen geschlossen.
Er war die gestürzte und zerbrochene schwarze Marmorstatue von Azrael, dem Engel, der das Lebensbuch hütete. Oft wurde er als Engel des Todes bezeichnet, doch diese Bezeichnung tat ihm unrecht.
Im schwarzen Stein hatte sich ein echter Engel versteckt. Azrael persönlich. Sein überirdisches Wesen befand sich noch immer in den zerbrochenen Teilen der Skulptur. Seine Engelskraft aber hatte er verloren.
An jemand anderen.