Fetzer und die Schönheit des Scheiterns
Autor: Susanne Wiegele
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 184 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Kommissar Fetzer dreht durch!
Der ewig griesgrämige und mit fragwürdigen sozialen Fertigkeiten ausgestattete Wiener Kommissar, hat es geschafft. Er ist suspendiert. Und das bleibt er auch, wenn er nicht an einem Anti-Aggressions-Training teilnimmt. Auch seine brillante Ermittlungstechnik, die er seinem Auge für Details und seinem fotografischen Gedächtnis verdankt, hat ihn nicht davor bewahren können.
Aber er kann seine Wut auf die gesamte Welt nicht genießen, denn es geschieht ein Mord, der ein Versprechen einlöst, das er selbst vor gut 30 Jahren gegeben hat, und er muss Klarheit haben. So ermittelt er auf eigene Faust, und das in der verhassten Heimschule. Ein Ort, an den er nie mehr zurückkehren wollte. Denn er wird sich seinen Kindheitsängsten stellen müssen. Und der Erinnerung …
Bereits mit dem ersten Band „Fetzer und die Ordnung der Dinge“ avancierte Fetzer zum neuen Kult-Kommissar!
Pressestimme:
„Er liebt Dominas und den Naschmarkt, verachtet Unordnung und Unwissen. Kommissar Fetzer ermittlet als politisch unkorrekter Wiener Monk. Schräg und sehr böse.“ (Michaela Knapp, Format)
Leseprobe aus »Fetzer und die Schönheit des Scheiterns«
Kapitel I
Das Geräusch eines brechenden Nasenbeins klingt wie Holz, das gespalten wird. Dumpf und doch scharf. Die Fingerknöchel des zweiten Beteiligten aber schmerzen.
Fetzer überlegte, was zuerst gekommen war: das Geräusch oder der leichte Schmerz. Er kam zu dem Schluss, dass beides ungefähr gleichzeitig seine Wahrnehmungskanäle erreicht haben musste. Was die Angelegenheit nicht besser machte.
Was die Angelegenheit allerdings zweifellos besser machte, war die Tatsache, dass der Kontrahent unmittelbar, nachdem das Geräusch das Ohr erreicht hatte, kläglich winselnd und keineswegs mehr arrogant auf dem Boden gesessen war.
Kurz darauf waren die Polizeisirenen und das Blaulicht in seine kontemplative Wahrnehmung gedrungen.
Die nachfolgende Amtshandlung entzog sich seiner Erinnerung.
Wut, Fetzer. Weiße, den Brustkorb hinaufsteigende, wellenartige Wut. Die sich wie Gischt an „Ajna-Chakra“, dem dritten Auge, bricht.
Nichts besiegt dich, Fetzer, nur die Wut. Deshalb steh ich jetzt auch da. Und der Blasse red schon wieder ohne Punkt und Komma. Ob der Herr Kommissar noch einen Spritzer wolle? Ob er jetzt, wo er Zeit habe, vielleicht auf Urlaub fahren werde? In Südfrankreich, ja, da kenne er ein Resort, da könne man …
„Halt die bleede Goschn, Blasser. I denk nach, wie jeder halb intelligente Mensch sehen würde. Aber klar, du bist ja ned amal halb intelligent.“
Giovanni, der wie alle Wirte nur seine eigene Religion kannte, deren zwei Gebote lauten: Erstens, der Gast hat immer recht, und zweitens, er zahlt immer mein Gehalt, kam der Aufforderung nach, wenn auch mit Mühe.
Fetzer aber brütete.
Brütungen des Bewusstseins schalten das Unbewusste stumm und verhindern so die Flut der ankommenden Informationen. Das ist tröstlich. Aber es ist der Trost der Bettdecke, die sich ein ängstliches Kind über den Kopf zieht. Und der Trost der Wahnsinnigen, die sich ihren inneren Bildern zuwenden, weil diese weniger schrecklich scheinen als die der äußeren Welt.
Suspendierung also. Diesmal war dem Oprieschnig ein Diszi offenbar zu wenig gewesen. Wundert das? Nein. Mit der verbundenen Nase war der feine Herr sicher das Gespött des Golfclubs gewesen, was die äußerst schlechte Laune bei der Anhörung wohl hinreichend erklärte.
Die verordneten Therapiestunden zur Aggressionskontrolle aber nicht. Verdammt. Wie lange würde es dauern, bis dieser verkrochene Polizeipsychologe Meldung machte? Eine Woche noch, höchstens. Länger konnte er das Nichterscheinen des suspendierten Herrn Gruppeninspektors mit gutem Gewissen nicht verschweigen. Obwohl – wer sagt, dass der ein Gewissen hat, wo er doch mit einem Beamtenarsch und dem zugehörigen Reptiliengehirn ausgestattet ist?
Fetzer ordnete gedankenverloren die Erdnussschälchen, die Gläser und zwei leere Bierflaschen zu einem perfekten Ensemble. Der Blasse, der ausnahmsweise die beiden Flaschen wegräumen wollte, hielt unbewusst mitten in der Bewegung inne. Ein seltener Gedankenblitz, der seine niedrigen Gehirnfunktionen mit den wenigen höheren verband, sicherte ihm so, ohne dass er dessen gewahr wurde, das Überleben.
Stattdessen hantierte er mit einer Flasche.
Wodka in einem Viertelglas. Daneben zwei Oliven und Erdnüsse. Fetzer drehte abrupt den Kopf nach links. Natürlich. Der einzige Mensch, der diesen Fusel zwar nicht gefahrlos, aber mit Todesmut trinken konnte, stand neben ihm. Navratil.
Fetzer schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Weit hast es gebracht! Nicht einmal die Ankunft deines Kanzleibeamten bemerkst mehr. A feiner Ermittler bist. Falsche Zeit. Warst.
Der Navratil, bewandert in den Gruben und Falten der menschlichen Seele, so sie sich dem Trinken hingegeben hatte aus Überdruss, Todessehnsucht oder schlicht aus Zartheit und Verletzlichkeit, erwiderte seinen Blick nicht, sondern starrte sein Glas an. Er wusste, dass Trinker mit und durch Alkohol sprechen. Und dass in dieser Hinsicht kein Unterschied zu den gewöhnlichen Depressiven besteht.
Also verhielt er sich still und glich seinen Atem dem des Kommissars an. Mit Erfolg.
„Und? Lebst jetzt gsund?“
Navratil zeigte wortlos auf die Oliven und versuchte ein Lächeln.
„Red schon, Depperter, was gibt’s?“
Und Navratil legte dem Kommissar sein Polizeiherz zu Füßen.
Die Lichtblau war jetzt also Gruppeninspektorin, provisorisch. A Drama war das. Niemand hatte den geringsten Respekt vor ihr, der Spitz lieferte rein gar nichts mehr und er selber sähe sich auch nicht gehalten, Berichte und Arbeitsanweisungen ordnungsgemäß zu erledigen. A anständiger Mensch, die Rachel, soweit das möglich ist aufgrund ihres Geschlechts. Aber Gruppeninspektorin!
„Was soll i mit der Information? Das Innenministerium zwingen, Weiber nicht zum Polizeidienst zuzulassen? Die Oliven tun dir ned gut, Navratil, die vergiften dir das Gehirn.“
Aber Navratil kümmerte sich nicht um den Einwurf – denn wer sein Herz öffnet, bereitet einem Sturzbach von halb gedachten und fehlgeschlossenen Sedimenten der Seele den Weg. Und so einer gräbt sich durch alle aufgerichteten Schutzwälle und Umzäunungen der Wahrnehmung.
Weiter und weiter führte er aus, was den Dienst jetzt besonders beschwerlich und zäh machte. Sein einziger Zuhörer aber war der Blasse. Mit Pawlow’scher Konditionierung für Wirte versehen quittierte er jeden tiefen Seufzer mit einem neuen Glas und jede unterstreichende Handbewegung mit neuen Erdnüssen, aber keinen Oliven. Konditionierung eines Gewerbetreibenden.
Als Navratil das nächste Mal aufschaute, war der Platz zu seiner Rechten leer. Bis auf das exakte Kleingeldtürmchen neben dem Spritzerglas.
Kapitel II
Was nutzt es, ein guter Ermittler zu sein, wenn die Welt doch immer gleich schlecht bleibt? Und wem nutzen die unterschiedlichen Ausformungen der mikroskopisch feinen Unterschiede, die der gute Ermittler erkennt? Niemandem. Denn niemand will es wissen, eigentlich.
Fetzer, du bist überhaupt kein Ermittler mehr. Du bist suspendierter Beamter des Polizeiapparats der Stadt Wien und als solcher gehalten, dich entweder beim Oprieschnig, diesem Musterbeispiel an staatlich sanktioniertem Kriechtier, zu entschuldigen – oder die angeordneten dreißig Stunden Psychoscheiß zum Thema Aggressionsabbau zu absolvieren.
Und beides geht einmal gar nicht.
Das Erste geht nicht wegen der kleinbürgerlichen, durch großzügige Schläge mit dem Lederriemen unterstützten Erziehung zu absoluter Ehrlichkeit und Gehorsam einer Respektsperson gegenüber.
Das Zweite geht nicht, weil man da über das Erste wird reden müssen.
Wie ist das eigentlich? Legt man immer, sobald man dem Geprügeltwerden entwachsen ist, die bis dahin so sorgsam mit dem Riemen in die weichen Flanken eingekerbten Werte unmittelbar und endgültig ab?
Wahrscheinlich haben s’ mich zu wenig geprügelt. Weil ich hab nur den Gehorsam abgelegt.
Mit mehr Prügeln wär ich dann wohl einer von denen geworden, die ich jag und einsperr. Nein. Gejagt hab und eingsperrt hab.
Ob der Oprieschnig auch die bürgerlichen Grundwerte als Striemen auf dem Arsch anerzogen bekommen hat? Waren dann wohl zu wenig, weil der hat seinen Gehorsam noch. Aber sonst nix. Drum ist er auch Kriminaldirektor und neuerdings Bezirkspolitiker – mit guten Chancen auf eine Berufung ins Ministerkabinett.
Quasi aus den braunen Sümpfen Nordsloweniens mit einem notwendigen Umweg über den schwarzen Beamtenapparat direkt ins Allerheiligste des Innenministeriums. Mit Beteiligung der blauen Brut in Gestalt des Müller-Hartberg, dessen kurzzeitiger Aufenthalt im Landl II die karrierefördernde Intervention des Herrn Kriminaldirektors erst möglich gemacht hatte.
Nicht einmal das hat sein Gutes, wenn man eine dieser korrupten Schmeißfliegen einsperrt! Im Gegenteil.
Fetzer schritt schneller, als er auf der Höhe des „Jägersmann“ war. Für nichts konnte er garantieren, wenn er jetzt den Müller-Dings auch nur aus dem Augenwinkel sehen würde.
Nur heim jetzt! Nein. Keinesfalls heim.
Wer äußere Ordnung herstellt, um innere zu finden, hat, wenn er nur genug Zeit dafür aufwendet, irgendwann einmal alles geordnet. Tassen, Grünpflanzen, Besteck. Kleiderkästen und Hutablagen, Vorratsschränke und Schreibtischladen. Nur um zu merken, dass die innere Ordnung der äußeren nicht gefolgt ist. Dann beginnt man von Neuem. Und wiederum von Neuem.
Bis man nicht mehr weiß, ob man gerade fertig ist oder schon wieder angefangen hat.
Fetzer zwang sich, die äußere Welt zu beobachten und zu katalogisieren. Ein Blick auf die Fenster über dem „Drechsler“ zeigte ihm, dass die mitteilungsbedürftigen Bewohner einen neuen Spruch in die Fenster geklebt hatten: „Back to boredom“ wurden alle, die irrtümlich hinaufschauten, angewiesen. Im Gegensatz zu was, bitte?
Automatisch bog er in die Stiegengasse ein, deren unregelmäßige Pflasterung ihm sonst in aller Regel Magenschmerzen verursachte.
Alles ruhig, dunkel und schlafend. Nur das „Village“ lebte noch.
Der diensthabende Security kam seiner Aufgabe perfekt nach. Ruhig und gelassen, mit absichtsloser, aber sichtbarer Körperspannung hielt er den Blick nach vorne. Ein Puma. Das Fetzer’sche Hirn verband und katalogisierte den visuellen Eindruck und die fühlbare Energie mit einer visuell-kinästhetischen Erinnerung an das tatsächliche Tier.
Daneben stand ein ebenso katzenartiges Weibchen, in dieselbe Richtung blickend. Beide waren einander gewahr, sprachen jedoch nicht.
Erst in der Gumpendorfer Straße wurde ihm bewusst, dass sie barfuß gewesen war.
Fetzer prüfte das exakte Bild seiner Erinnerung und blieb verblüfft stehen. Sein fotografisches Gedächtnis zoomte auf die Zeitung unter den Füßen des Weibchens und auf die neben ihr stehenden High Heels.
Die Fetzer’sche Gabe der Kombinatorik versagte ausnahmsweise völlig. Er konnte sich weder den Hergang, noch den Ausgang dieser Szene vorstellen.
Genügend abgelenkt von den sich daraus ergebenden Möglichkeiten und den vielfältigen Gedankengebäuden, die sein Geist unablässig errichtete, nahm er die Stiege zu seiner Wohnung, öffnete die Tür, fütterte den Kater und ging, ohne sich auch nur im Mindesten um die weitere Perfektionierung seiner äußerst perfekten Wohnung zu kümmern, zu Bett.
Kapitel III
Träume sind Ausgeburten des Unbewussten. Klar und leicht verständlich nur für dieses, für den Träumenden aber ein scheinbares Chaos.
Stellen wir uns das Gehirn wie eine gut geordnete Kommode für Socken vor. Schublade um Schublade vermögen wir herauszuziehen, um entweder punktgenau die grauen Zwirnenen oder die schwarzen Wollenen zu finden. Oder wir wissen ganz genau, dass wir blaue Stutzen mit Kaschmir besitzen, sind aber nicht in der Lage, sie zu finden, vor allem wenn wir sie entweder beim letzten Wegräumen falsch verortet haben oder damals gerade mit dem Herzensmenschen auf den Tod der Beziehung gestritten haben.
Das Unbewusste aber löst die Trennwände der Schubladen auf in unseren Träumen und präsentiert uns den gesamten Inhalt. Und zwar gleichzeitig und ungebeten.
Fetzer träumte also.
Er war wieder Bub und doch gleichzeitig Kommissar. Marie war da, die Süße aus Kindertagen, und traktierte ihn mit einem Buschen Brennnesseln und die Mama weinte still im Hintergrund. Und der Vater stand vor ihm mit dem Gürtel. Als er aufsah zum Vater, wurde dessen Gesicht zum Gesicht Oprieschnigs, und das Pfeifen seines Ledergürtels (oder war das ein Golfschläger?) vor dem Auftreffen auf dem Fetzer’schen Oberkörper wurde zum rhythmischen Geräusch eines Handys.
„Was?“
Gemurmel im Hintergrund, Gläserklirren und Lachen. Das Pfeifen einer alten Gaggia-Espressomaschine. Leises Klack-Klack wie von einem Holzlöffel, der auf Metall schlägt. Kein Zweifel. Das „Alt Wien“.
„Spitz, was willst von mir? Und überhaupt um diese Uhrzeit? Was heißt, wieso ich weiß, dass du das bist? Ich bin nicht taub und noch nicht ganz blöd. Außer ein paar Altlinken und Möchtegernbohemiens geht niemand mehr ins ,Alt Wien‘. Außer dir natürlich.“
Fetzer hielt die Augen geschlossen und visualisierte den Leiter der Spurensicherung, diesen Schandfleck aller Forensiker. Sicher wieder im fleckigen Pullunder und den Dreck von unzähligen Beweisstücken unter den Fingernägeln.
„Ja, ja, entschuldig dich bei deiner Frau Mutter, dass sie dich Kreatur gebären hat müssen, aber ned bei mir. Also, was störst mich um zwei in der Früh? Leichen interessieren mich nicht. Sind nicht mehr meine!“
Aber der Spitz war, wohl auch wegen des schmerzhaft vermissten Umgangstons seines Kommissars, nicht zu bremsen und erstattete aus alter Gewohnheit Bericht.
Fetzer unterbrach ihn gelegentlich mit geknurrten Kommandos wie „Genauer!“ und „Zur Sache!“ und legte schließlich grußlos auf.
Um vier Uhr dreißig, als die Sonne zaghaft den Himmel über dem Naschmarkt rötete, saß er immer noch aufgerichtet im Bett, das Handy in der Linken mit weißen Knöcheln umklammernd.
Kapitel IV
Wer sagt, dass nur die Toten wieder aufstehen? Das kann nur jemand sein, der nie von Erinnerungen heimgesucht wird, von denen an die eigene Schulzeit zum Beispiel. Da stehen sie nämlich alle wieder auf, die Lebenden und die Toten. Lehrer und Erzieher, Mütter und Väter, Großeltern und Professoren.
Wenn es gelingt, das Unbewusste ruhig zu halten, dann bleiben sie verborgen im hintersten Winkel. Nicht ohne andauernd aufzuzeigen aus dem Dunkel und sich während eines Vortrags, einer Rede oder in einer gesellschaftlich relevanten, wenn auch lebenstechnisch belanglosen Situation zu melden und einem das eben gedachte Wort in der Kehle stecken bleiben zu lassen. Oder die Knie zum Zittern zu bringen.
Fetzer stand endlich auf und begab sich ins Bad. Unter der Dusche, während der Anwendung des seit Jahren durchgeführten und unveränderbaren Säuberungsrituals, fielen die Worte des Spottliedes aus den Tiefen seines Gedächtnisses in sein Bewusstsein ein wie Krähen in ein Feld. Zuerst einige wenige, dann, gleichzeitig mit der Melodie des „Gaudeamus igitur“, die ganze Brut:
„Sieh, der ,Henker‘ kommt von fern, der hat junge Ärsche gern!“
Fetzer verlor gleichzeitig mit seiner Contenance die Seife ...