Schöner Schein

Autor: Donna Leon
Verlag: Diogenes Verlag
Umfang: 344 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Commissario Brunettis achtzehnter Fall
Aus dem Englischen von Werner Schmitz

Nichts als schöner Schein – das denken sich wohl die Leute, wenn sie »la Superliftata« in der Calle begegnen. Brunetti aber merkt, dass sich hinter den starren Zügen von Franca Marinello Geheimnisse verbergen. Nicht anders als hinter den feinen Fassaden von Venedig: Den Machenschaften der Müllmafia auf der Spur, entdeckt Brunetti die Kehrseite der Serenissima.

Leseprobe aus »Schöner Schein«

Die Frau fiel ihm auf, als sie beide sich zu ihrer Abendeinladung auf den Weg gemacht hatten. Er und Paola waren vor einer Buchhandlung stehen geblieben, und während er sich vor der spiegelnden Scheibe die Krawatte richtete, sah Brunetti in seinem Rücken die Frau, die sich, Arm in Arm mit einem älteren Mann, Richtung Campo San Barnaba entfernte. Er sah sie von hinten, der Mann zu ihrer Linken. Als Erstes bemerkte Brunetti ihr Haar, hellblond wie Paolas, zu einem sanften Knoten tief in ihrem Nacken geschlungen. Als er sich umwandte, um sie genauer zu sehen, war das Paar schon an ihnen vorbei und näherte sich der Brücke, die Richtung San Barnaba führte.

Ihr Mantel – vielleicht Hermelin, vielleicht Zobel: auf jeden Fall etwas Teureres als Nerz, dachte Brunetti – reichte bis knapp über sehr zierliche Fesseln und Schuhe mit Absätzen, die eigentlich zu hoch waren für die noch von Schnee- und Eisresten bedeckten Calli.

Brunetti kannte den Mann, kam aber nicht auf seinen Namen: Nur eine vage Erinnerung an Reichtum und Einfluss stieg in ihm auf. Kleiner und breiter als die Frau, bemühte sich der Mann mehr als sie, den vereisten Flächen auszuweichen. Am Fuß der Brücke machte er plötzlich einen Schritt zur Seite und suchte mit einer Hand am Geländer Halt. Die Frau an seinem Arm wurde mitgezogen und drehte sich auf einem Fuß, den anderen noch in der Schwebe, so dass der immer noch neugierige Brunetti sie nun nicht mehr richtig sehen konnte.

»Wenn du Lust hast, Guido«, sagte Paola neben ihm, »kannst du mir zum Geburtstag die neue William-James-Biographie schenken.«

Brunetti riss sich von dem Pärchen los und folgte dem Zeigefinger seiner Frau, der auf ein dickes Buch im hinteren Teil des Schaufensters wies.

»Ich dachte, der heißt Henry«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Sie zog ihn mit einem Ruck enger an sich. »Stell dich nicht dumm, Guido Brunetti. Du weißt, wer William James ist.« Er nickte. »Aber warum interessiert dich die Biographie des Bruders?« »Mich interessiert die ganze Familie und überhaupt so

ziemlich alles, was ihn zu dem gemacht haben könnte, der er war.«

Brunetti dachte an die Zeit vor über zwanzig Jahren, als er Paola kennengelernt und den brennenden Wunsch verspürt hatte, alles über sie in Erfahrung zu bringen: über ihre Familie, ihre Vorlieben, ihre Freunde, alles, was ihm mehr über diese wunderbare junge Frau sagen konnte, die ein gütiges Schicksal ihm zwischen den Regalen der Universitätsbibliothek über den Weg geschickt hatte. Brunetti fand eine solche Wissbegier durchaus normal, wenn es um einen lebenden Menschen ging. Aber bei einem Schriftsteller, der seit fast hundert Jahren tot war?

»Was fasziniert dich nur so an ihm?«, bohrte er nicht zum ersten Mal. Brunetti merkte selbst, dass er sich wieder einmal wie der reizbare, eifersüchtige Ehemann aufführte, den ihre Schwärmerei für Henry James schon oft aus ihm gemacht hatte.

Sie ließ seinen Arm los und trat zurück, als wollte sie sich den Mann, mit dem sie aus irgendeinem Grund verheiratet war, einmal genauer ansehen. »Weil er viele Dinge versteht«, sagte sie endlich.

»Aha«, meinte Brunetti nur wortkarg. »Sonst nichts?« Ihm schien, das sei das mindeste, was man von einem Schriftsteller erwarten konnte.

»Und weil er auch uns dazu bringt, diese Dinge zu verstehen«, fügte sie hinzu.

Und damit war das Thema erledigt.

Paola schien der Ansicht, sie hätten jetzt mehr als genug Zeit damit verbracht. »Komm. Du weißt, wie mein Vater es hasst, wenn man zu spät kommt.«

Sie ließen die Buchhandlung hinter sich. Am Fuß der Brücke blieb Paola stehen und sah ihm ins Gesicht. »Du weißt, ich habe dir das schon oft gesagt«, fing sie an. Er wusste, was jetzt kam, und es stimmte, sie hatte ihm das schon oft gesagt. »Du bist Henry James wirklich sehr ähnlich.«

Wie jedes Mal, wenn sie ihm das sagte, wusste Brunetti nicht, ob er sich durch diesen Vergleich geschmeichelt oder gekränkt fühlen sollte. Zum Glück hatte er im Lauf der Jahre gelernt, nicht jedes Mal die Grundlagen ihrer Ehe in Frage zu stellen.

»Und du willst die Dinge verstehen, Guido. Sonst wärst du wohl nicht Polizist geworden.« Sie überlegte einen Moment. »Aber du willst auch, dass andere Leute diese Dinge verstehen.« Sie wandte sich ab, ging die Brücke hinauf und rief noch über die Schulter: »Genau wie er.«

Brunetti ließ ihr bis zur Mitte der Brücke einen Vorsprung, ehe er ihr nachrief: »Heißt das, dass ich das Zeug zum Schriftsteller habe?« Wie schön, wenn sie mit Ja antworten würde.

Sie tat die Frage mit einer Handbewegung ab und drehte sich nach ihm um: »Das macht es so interessant, mit dir zusammenzuleben.« Damit ging sie die Brücke auf der anderen Seite hinunter.

Noch besser als Schriftsteller sein, dachte Brunetti und folgte ihr.

Brunetti sah auf seine Uhr, während Paola am portone ihres Elternhauses klingelte. »So viele Jahre, und du hast immer noch keinen Schlüssel?«, fragte er.

»Stell dich doch nicht so an«, sagte sie. »Natürlich habe ich einen Schlüssel. Aber wir sind eingeladen, und da ist es besser, wenn wir uns wie Gäste anmelden.«

»Heißt das, wir müssen uns auch wie Gäste benehmen?«, fragte Brunetti.

Was auch immer Paola darauf hätte antworten können, blieb ungesagt, da ihnen in diesem Moment ein Mann, den sie beide nicht kannten, das Hoftor öffnete. Er lächelte, deutete etwas zwischen einem Nicken und einer Verbeugung an und zog das Tor vollständig auf.

Paola dankte ihm, und sie gingen über den Hof auf die Treppe zu, die zum Palazzo hinaufführte. »Keine Livree«, flüsterte Brunetti entrüstet. »Keine Perücke? Mein Gott, wie tief ist die Welt gesunken? Demnächst essen die Dienstboten noch bei den Herrschaften mit an der Tafel, und dann verschwindet nach und nach das Silberbesteck. Wo soll das nur enden? Dass Luciana deinem Vater mit einem Fleischerbeil nachrennt?«

Paola blieb abrupt stehen und drehte sich schweigend zu ihm um. Sie strafte ihn mit jenem Blick, den sie immer zur Schau trug, wenn er zu weit gegangen war.

»Si, tesoro?«, fragte er honigsüß.

»Ich schlage vor, Guido, wir warten hier ein Weilchen, bis du deine komischen Bemerkungen über die gesellschaftliche Stellung meiner Eltern losgeworden bist, und wenn du dich beruhigt hast, gehen wir nach oben zu den anderen Gästen, und du benimmst dich beim Essen wie ein halbwegs zivilisierter Zeitgenosse. Was sagst du dazu?«

Brunetti nickte. »Gefällt mir, besonders der ›halbwegs zivilisierte Zeitgenosse‹.«

Sie strahlte ihn an: »Das dachte ich mir, mein Lieber.« Dann wandte sie sich um, und als sie die Treppe hochstieg, folgte Brunetti ihr auf dem Fuß.

Paola hatte die Einladung ihres Vaters bereits vor einiger Zeit angenommen und Brunetti erklärt, Conte Falier wolle seinen Schwiegersohn mit einer guten Freundin der Contessa bekannt machen.

Die Liebe seiner Schwiegermutter hatte Brunetti im Lauf der Jahre anzunehmen gelernt, ohne sie zu hinterfragen, aber was den Conte betraf, war er sich nie sicher, ob jener eigentlich in ihm einen Emporkömmling sah, der sich die Zuneigung seines einzigen Kindes erschlichen hatte, oder einen Mann von Talent und Verdiensten. Nach kurzem Nachdenken akzeptierte Brunetti, dass dem Conte ohne weiteres zuzutrauen war, beides zugleich in ihm zu sehen.

Ein zweiter Unbekannter erwartete sie oben an der Treppe, und als er mit einer leichten Verbeugung die Eingangstür aufschwingen ließ, strömte ihnen die Wärme aus dem Inneren des Palazzo entgegen. Paola dankte mit einem Nicken; Brunetti folgte ihr hinein.

Schon im Vestibül vernahmen sie die Stimmen aus dem großen Salon, der auf den Canal Grande hinaussah. Der Mann nahm ihnen schweigend die Mäntel ab und zog die Tür einer beleuchteten Garderobe auf. Brunetti riskierte einen Blick hinein; im hintersten Winkel hing, abgesondert von den anderen, ein besonders kostbarer Pelzmantel.

Die Stimmen lockten sie in den Salon. Als Brunetti und Paola eintraten, standen ihre Gastgeber vor dem mittleren Fenster. Sie wandten Brunetti und Paola das Gesicht zu, während die sie umringenden Gäste die Aussicht auf die Palazzi am anderen Ufer des Canal Grande genossen, und Brunetti, der die Gäste nur von hinten sah, erkannte unter ihnen das Paar, dem sie vorhin auf der Straße begegnet waren; oder aber es gab noch einen zweiten untersetzten, weißhaarigen Mann mit einer großen blonden Gefährtin, die schwarze Stöckelschuhe trug und ihr Haar zu einem kunstvollen Knoten geschlungen hatte. Sie hielt sich ein wenig abseits, schaute aus dem Fenster und schien sich wenig für die Gäste zu interessieren.

Zwei weitere Paare standen links und rechts von seinen Schwiegereltern. Er erkannte den Anwalt des Conte und seine Frau; die anderen beiden waren eine alte Freundin der Contessa, die sich ebenso wie die Contessa für wohltätige Zwecke engagierte, und ihr Mann, der Rüstungsgüter und Bergbautechnik an Länder der Dritten Welt verkaufte.

Der Conte unterbrach seine angeregte Unterhaltung mit dem Weißhaarigen, als er Paola bemerkte. Er stellte sein Glas ab, sagte noch etwas zu dem Mann, trat um ihn herum und ging auf seine Tochter und Brunetti zu. Als sein Gastgeber sich entfernte, wandte der Mann sich neugierig um. Und jetzt fiel Brunetti auch der Name ein: Maurizio Cataldo, ein Mann, von dem es hieß, er habe Beziehungen zur Stadtverwaltung. Die Frau sah weiter aus dem Fenster, als sei sie bezaubert von der Aussicht und habe das Verschwinden des Conte gar nicht bemerkt.

Brunetti und Cataldo kannten sich, wie so oft in dieser Stadt, nur vom Sehen; dennoch wusste Brunetti in groben Umrissen über Cataldo Bescheid. Die Familie war, soweit Brunetti wusste, irgendwann zu Beginn des letzten Jahrhunderts aus dem Friaul nach Venedig gekommen, hatte es in der Zeit des Faschismus zu Wohlstand gebracht und war im großen Boom der sechziger Jahre sogar noch reicher geworden. Bauwesen? Transportwesen? Er wusste es nicht genau.

Der Conte begrüßte Brunetti und Paola beide mit zwei Wangenküssen und drehte sich wieder zu dem Paar um, mit dem er zuvor gesprochen hatte. »Paola, du kennst die beiden«, und zu Brunetti: »Aber du vermutlich nicht, Guido. Sie möchten dich unbedingt kennenlernen.«

Das mochte für Cataldo gelten, der ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen und zur Seite geneigtem Kinn entgegensah und seinen Blick mit unverhohlener Neugier zwischen Paola und Brunetti hin- und hergehen ließ. Die Miene der Frau hingegen war unmöglich zu deuten. Oder genauer gesagt, ihr Gesicht drückte eine andauernde Erwartung aus, hineingepflanzt von einem hilfsbereiten Chirurgen. Ihr Mund war bis ans Ende seines irdischen Daseins zu jenem kleinen Lächeln geöffnet, das man zeigt, wenn die Hausangestellte einem ihr Enkelkind vorstellt. Als Ausdruck von Freude mochte das Lächeln etwas dünn sein, aber die Lippen, die lächelten, waren voll und von einem dunklen Rot, wie man es von Kirschen kennt. Ihre Augen wurden von den hochstehenden Wangen zusammengedrückt, die zu beiden Seiten ihrer Nase als pralle rosa Polster von der Größe einer längshalbierten Kiwi prangten. Die Nase selbst begann höher an der Stirn, als Nasen es gewöhnlich tun, und war seltsam flach, als habe sie jemand nach dem Einsetzen mit einem Spachtel geglättet.

Von Falten und Flecken keine Spur. Ihre Haut war perfekt, die Haut eines Kindes. Das blonde Haar gab durch nichts zu erkennen, dass es etwas anderes sein könnte als gesponnenes Gold, und Brunetti wusste genug über Mode, um zu erkennen, dass ihr Kleid kostspieliger war als jeder Anzug, den er je besessen hatte.

Das also musste Cataldos zweite Frau sein, »la Superliftata«, eine entfernte Verwandte der Contessa, von der Brunetti zwar gelegentlich gehört, die er aber nie persönlich kennengelernt hatte. Kurzes Stöbern in seinem Gedächtnisspeicher für Gesellschaftsklatsch ergab, dass sie irgendwoher aus dem Norden kam, angeblich die Öffentlichkeit scheute und irgendwie seltsam war.

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