Ezzes

Autor: Andreas Pittler
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 288 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Wien, Juli 1927. Oberstleutnant Bronstein von der Wiener Polizei muss den Mord an einem als geizig und menschen-verachtend verrufenen Gemischtwarenhändler aufklären. Im Zuge seiner Ermittlungen wirken ihm die verschiedenen Verdächtigen alsbald wesentlich sympathischer als das Opfer. Nebenher verfolgt Bronstein den Prozess um die Mörder von Schattendorf, eine Gruppe Rechtsradikaler, die kurz zuvor einen Invaliden und ein Kind ermordet hatten. Als diese Mörder gegen jedes Rechtsempfinden freigesprochen werden, eskaliert die Lage im sommerlichen Wien, und Bronstein findet sich plötzlich mitten im dramatischen Geschehen wieder.

Leseprobe aus »Ezzes«

... Das Erdgeschoß der zweiten Stiege wies nur eine einzige Wohnung auf, und so klopfte Bronstein ohne zu zögern an die entsprechende Tür. Ein rasselnder Husten war die erste Reaktion, und Bronstein hoffte inständig, die alte Lifschitz würde nach drei Jahrzehnten in Simmering des deutschen Idioms ausreichend mächtig sein. Er wartete, doch nichts tat sich. Vielleicht war die Alte schon komplett verblödet, dachte er sich und bereitete sich geistig auf das Schlimmste vor. Dann klopfte er noch einmal.

Eine quietschende Stimme drang durch die Tür: „Is da wer?"

„Ja. Einen guten Tag zu wünschen. Oberstleutnant Bronstein von der Wiener Polizei. Ich bräuchte eine Auskunft", rief Bronstein durch die Tür.

„A Auskunft", echote die Alte, während sie ihre Türe öffnete, „i bin aber ka Auskunftei."

Bronstein ignorierte den vorwurfsvollen Unterton in der Stimme und wollte seine erste Frage stellen, ehe er vom Anblick, der sich ihm bot, irritiert wurde. Die Frau mochte an die hundert Jahre alt sein und sah genauso aus wie die Illustrationen der Hexe in „Hänsel und Gretel". Ein markanter Rundrücken ließ die Alte kaum größer als einen Meter vierzig erscheinen, und als sie ihr vollkommen zerfurchtes Gesicht in Bronsteins Richtung hob, da fiel ihm sofort die riesige Warze auf dem Nasenhöcker auf. Gleich danach sprang ihm das spitze Kinn ins Auge, und der stechende Blick schreckte ihn beinahe mehr als der fast zahnlose Mund, dem die vorwitzige Bemerkung mit der Auskunftei entflohen war. Die Alte war offenbar seit dem Ableben Kaiser Franz Josephs nicht mehr hygienisch tätig gewesen, und der pestilenzartige Gestank, der sie umgab, wurde nur durch den penetranten Geruch angebrannten Kohlgemüses etwas gemildert. Bronstein kämpfte mit nachhaltigem Ekelgefühl und bemühte sich, Haltung zu bewahren.

„Alsdern, was wollen S' wissen?"

Wenigstens war sie noch bei Sinnen, und es würde auch keine Verständigungsprobleme geben.

„Ich bräuchte ein paar Informationen über die Geschichte des Hauses und über die jeweiligen Hausbesitzer."

„Na", schnalzte die alte Lifschitz abschätzig mit der Zunge, „i siech scho, des dauert länger. Also kummen S' erst einmal eine do. So zwischen Tür und Angel red't sich's ja ned so leicht."

Bronstein hätte diese Einladung gerne abgelehnt, aber dieses Opfer musste er wohl bringen, wollte er die Hintergründe dieses Hauses in Erfahrung bringen. Er holte noch einmal tief Luft und folgte dann Frau Lifschitz in ihr Reich.

Dieses bestand, wie er nun erkennen konnte, aus dem Vorraum, der gleichzeitig als Küche fungierte und kaum größer als zehn Quadratmeter war. Daran schloss sich ein Schlafraum, der womöglich noch kleiner war und das einzige Fenster der Wohnung aufwies, welches auf den Hof ging und einen direkten Blick auf das Gestänge zum Ausklopfen der Teppiche bot. Immerhin wies die Bleibe eine penible Ordnung auf, sodass Bronstein der Einladung, sich zu setzen, ohne größere Hemmungen nachkam. „Sie müssen scho entschuldigen", erklärte die Alte, „aber mir is heute leider der Kelch anbrennt. Des passiert mir sonst nie, aber z'erst is ma die Waschschüssel abeg'fall'n, und do hob i aufwischen müssen, und so hab i das Essen ganz vergessen. Erst bis i's g'rochen hab. Aber da war's, wie S' ihna denken können, z'spät."

Bronstein bemühte sich um eine mitfühlende Miene. „Na, und dann is ma a no des Schmalzglasl am Blutzer g'fallen, und jetzt stink' i wia a Iltis. Des tut ma echt lad, i waaß, Sie miassen ihna jetzt denk'n, de hot sie seit'm Kaiser selig nimma bod't, oba des woa echt nua a Verkettung unglücklicher Umstände."

Bronstein fühlte sich ertappt und deshalb kam er ohne Umschweife wieder auf den Grund seines Hierseins zu sprechen. „Was, Frau Lifschitz, können Sie mir über dieses Haus erzählen?"

„Na, weit is' nimma her mit der Höh', wenn s' jetzt scho in Heimatkunde mocht, wos?" Dabei kicherte die Alte genau so, wie es sich Bronstein von der Hexe im Märchen erwartet hätte.

„Meine Frage, Frau Lifschitz, hat natürlich einen konkreten Grund. Ich ersuche Sie aber, diesen erst später enthüllen zu dürfen. Ich möchte Sie in Ihrer Erzählung vorerst nicht beeinflussen. Es heißt, Sie wohnen hier, seit das Haus erbaut wurde."

„Na."

„Nein?"

„Na." Die Alte machte eine dramatische Pause, ehe sie fortfuhr: „I wohn erst do, seit des Haus bezugsfertig woa. Weu vurher woa's a Baugruabn und dann a Baustö, ned wahr!"

So viel zur semitischen Semantik, dachte sich Bronstein angesichts des Familiennamens der Alten. Wenigstens war sie geistig ganz auf der Höhe.

„Gut, seit wann genau wohnen Sie also hier?"

„Seit dem 1. Oktober 1899. I woa die erste Partei in dem Haus. Und bis 1924 hab i vorn im Erdgeschoß g'wohnt, in der Hausbesorgerwohnung. Dann bin i mit 69 in Pension gangen. Jetzt bin i 72, obwohl i ma manchmal denk, i schau aus wie hundert."

Ob die Alte Gedanken lesen konnte?

„1924, da gab es ja auch einen neuen Hausherrn, oder?"

„Der Guschlbauer, jo. Na des woa a G'schicht."

„Aha, und was für eine?"

„Alsdern. Die Witwe, die was des Haus von ihrn Seligen übernommen hat, die woa ja fast so alt wia i, ned. Und auf amoi, im 19er Jahr, zwickt sich di a Gspusi auf. I man, de woa damals sechzig! Und der Galan, der woa g'rad amoi vierzig. Also da ist alles klar, oder? Aber der Alten woa des wurscht. Die hat glaubt, sie erlebt an zweiten Frühling oder so. Aber es is ihr schnell vergangen. Es hat koa Jahr dauert, da hat er ang'fangen, sich als Chef aufzumspielen. Und wieder a Jahr später, da hat er s' des erste Mal verdroschen. Auf jo-na war des dann die tägliche Routine. Und wia s' dann g'merkt hat, was da eigentlich rennt, da hat sa si dann eh selber wegg'ramt."

„Weggeräumt?"

„Na ja, mit Schlafpulver halt. Glauben S', a solche stirbt mit 65 einfach so? Na, de hot se hamdraht. Und der Hundling erbt dann no alles. So kann's geh'n auf der Welt, das sag i Ihna."

„Was haben Sie gemeint, wie Sie gesagt haben, was da eigentlich rennt?"

„Na ganz afoch. Des woa amoi a Haus mit anständige Parteien. Vorn hamma zwanzig Mieter g'habt, und hinten auch. Keine Aftermieter, keine Bettgeher, ja ned amoi Arbeitslose oder so was. Und dann is er kommen, der Guschlbauer, und hat alle der Reih' nach außebissen, bis nur mehr i da war. Und in jede freie Wohnung hat er a halbes Dutzend Polacken oder Ruthener oder sonst irgendwelche Leut' eineg'setzt, die was ka Wort Deutsch versteh'n. Die haben si hint' und vorn ned auskennt, und darum nimmt er von denen natürlich den dreifachen Zins. Der hat si g'sundg'stoßen bei der G'schicht, des sag i Ihna. Vorn wohnt jetzt a ganzer Stamm, hundert Leut und mehr, die wos alle aus demselben Dorf san oder so, und da herüben wohnen jede Menge Leut, die was gar ned behördlich gemeldet san. Des san seine persönlichen Sklaven, wenn S' wissen, was ich mein. Die san illegal da, und d'rum müssen die machen, was immer er will. Da passieren Sachen, das glaubt man ned."

„So? Was denn für Sachen?"

„Oben, im dritten Stock, da wohnen zwa Flitscherl, die empfangen Herrenbesuche, aber ned zum Tee, wann S' verstehen. Die machen für den Guschlbauer die Hur'n."

„Und da beschweren Sie sich nicht?"

„Aber woher denn? Glauben S', des warat g'sund für mi? Na, i glaub ned! Und sonst traut sich auch keiner was, weil die ja alle Dreck am Stecken haben, und sei's auch nur, dass s' schwarz da wohnen und schwarz irgendwo arbeiten."

„Die zwei Damen im dritten Stock, wo sind die her?"

„Ja klar, des interessiert den Herrn Inspektor jetzt, was? Samma auf einmal von der Sitte oder was? Und warum wollen S' das alles überhaupt wissen, bitte schön? Jetzt erzählen erst einmal Sie mir was."

Die Alte lehnte sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Bronstein beäugte sie kurz und kam dann zu dem Schluss, es sei an der Zeit, der Frau seine Beweggründe zu erhellen: „Der Herr Guschlbauer ist gestern ermordet worden. In seinem Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt. Wir schließen zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Raubmord aus, und daher sind wir auf der Suche nach etwaigen anderen Motiven."

Die Alte ließ einen schrillen Pfiff hören. „Na da schau her, das hätt er sich jetzt aber nicht denkt, der feine Herr Guschlbauer! Na ja, ich kann ned sag'n, es hätt den G'fehlten erwischt."

„Die anderen Mieter werden Ihre Sichtweise wohl teilen, nach dem, was Sie mir eben erzählt haben", hakte Bronstein nach.

„Schon. Aber wenn S' glauben, den hat irgendwer von denen g'macht, dann sind S' ganz sicher am Holzweg. Von denen da traut sich so was niemand, da bin i ganz sicher."

„Mein Interesse", fuhr Bronstein fort, „an den beiden Damen im dritten Stock ist rein polizeilicher Natur, denn es gibt einen Hinweis, dass es sich möglicherweise um einen Mord aus Leidenschaft handeln könnte. Der Verewigte wurde nämlich in einer etwas peinlichen Situation abberufen."

„Haben S' ihn mit runterlassene Hosen erwischt, den ausg'schamten Hallodri", kicherte die Alte. „Na, Sie können ja Nachschau halten bei die Damen. Tür 20. Um die Zeit müssten die sogar schon munter sein. Slowakinnen sind's, aber wenn S' ganz langsam reden, dann verstehen s' Ihna schon. Viel Spaß." Das Grinsen der Alten changierte nun ins Spöttische.

„Gnädige Frau", ignorierte Bronstein abermals die Vorwitzigkeiten der Frau Lifschitz, „Sie haben mir sehr geholfen. Ich darf mich empfehlen." Damit erhob er sich und begab sich wieder ins Stiegenhaus. ...

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