Chuzpe
Autor: Andreas Pittler
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 320 Seiten
Kurzinformation zum Buch
Wien, November 1918. Der Erste Weltkrieg neigt sich dem Ende zu, die Monarchie zerfällt, und Major David Bronstein ist mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung konfrontiert. Während er in einem Mordfall an einer Modistin ermittelt, weiß er nicht mehr, wer jetzt sein Vorgesetzter ist: der kaiserliche oder der republikanische Polizeichef. Und während in den oberen Etagen offen um Kompetenzen gerungen wird, nehmen manche Bürger das Gesetz einfach selbst in die Hand. Bronstein hat alle Hände voll zu tun, um wenigstens in seinem Bereich die Übersicht zu bewahren. Was ihm umso schwerer fällt, als er sich Hals über Kopf verliebt.
Mit "Chuzpe" legt Andreas Pittler den mittlerweile dritten Band seiner Kriminalsaga vor, mit der er die Geschichte der Ersten Republik ebenso mitreißend wie spannend aufrollt.
Leseprobe aus »Chuzpe«
... Für Bronstein war das eine wichtige Information. Die Feigl war also am Mittwoch um sieben Uhr abends noch am Leben gewesen. Das musste man sich merken. „Was, lieber Herr Nemec, wissen Sie über den Umgang der Frau Feigl?"
„Na ja, sie war eine sehr stille Person. Sehr höflich, sehr zuvorkommend, aber irgendwie auch sehr schüchtern. Ich glaube nicht, dass sie viele Freundinnen hatte, zumindest hab ich selten welche gesehen. Und, obwohl das bei einem so hübschen Frauenzimmer in dem Alter nur natürlich gewesen wäre, sie hat auch keine Verehrer gehabt. Zumindest nicht, dass ich das bemerkt hätte. Die hat, glaube ich, gelebt wie eine Nonne. Bis dann dieser komische Eisenbahner aufgetaucht ist, dieser saubere Herr Plachutta. Das ist eine Person, kann ich Ihnen sagen! Der hat dem armen Mädel vollkommen den Kopf verdreht und sie dabei ausg'nommen wie eine Weihnachtsgans. Jeder Heller, den ich ihr gegeben hab, ist sofort in seine Taschen gewandert. Ein unguter Mensch, ich hab den von Anfang an ned mögen. Wie sich der da aufgeführt hat allerweil. Als wär er der Graf Bamsti persönlich."
„Das heißt, er hat sie immer wieder einmal abgeholt?"
„Ja, eigentlich ziemlich oft. Da ist er dann da im Geschäft dagesessen, als wär er der Inhaber von dem Laden. Einmal habe ich ihn zurechtgewiesen, weil er eine Kunde schikaniert hat. Wissen S', was er mir da gesagt hat? ,Blas di ned auf, sunst lass i da die Luft aus, Kropferter!‘ Das muss man sich sagen lassen von so einem Hallodri."
„Aber am Mittwoch hat er sie nicht abgeholt, der Herr Blaha?"
„Plachutta. Ganz sicher Plachutta. Ich hab nämlich einmal seine Papiere gesehen und mir noch gedacht, bitte, der Name passt."
„Wieso?"
„Na, Plachutta heißt in der Sprache meiner alten Heimat Segel. Und der Kerl hatte so Segelohren, mit denen hätt er abheben können wie ein Aeroplan."
Na bitte, dachte Bronstein. Jetzt würde die Suche nach dem Galan ein Kinderspiel werden. Der Vor- und der Nachname waren gesichert, das würde die ganze Sache merkbar vereinfachen.
„Also, am Mittwoch war er nicht da, der Herr Plachutta?"
„Nein. Also zumindest am Abend nicht. Aber ich glaube, die Hannah hat mittlerweile selbst gemerkt, dass der kein Guter ist. Sie hat ein paar Mal mit ihm gestritten, wie ich gerade ins Geschäft gekommen bin, und erst am Dienstag hat s' den ganzen Tag verweinte Augen g'habt. Und wie ich sie gefragt hab, was denn los ist, hat s' nur g'meint, der Schani - sie hat ihn immer Schani g'nennt, den Plachutta - sei so garstig g'wesen zu ihr, und sie sei sich sicher, dass er sie nebenbei abehaut."
„Sie meinte, er betrügt sie mit einer anderen?"
„Ja. Aber sie war sich nicht sicher. Jedenfalls war dieses Verhältnis seit Mitte Oktober sehr spannungsgeladen, wenn S' mich fragen. Sie ist auch, soweit ich das beurteilen kann, wieder in ihre alte Wohnung auf der Margaretenstraße zurückgezogen, nachdem s' a Zeiterl bei ihm in Favoriten g'wohnt hat."
„Wissen Sie zufällig, wo das ist in Favoriten?"
„Aber ja. Gleich da oben. Am Columbusplatz. Das Eckhaus zur Laxenburger Straße."
Das geht ja noch leichter, als man es erwarten durfte, freute sich Bronstein. Der Herr Nemec war ein Zeuge, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Bronstein notierte sich geistig die genannte Adresse und richtete dann noch eine Frage an Nemec: „Und kennen Sie den Vater der Frau Feigl auch?"
„Ja. Flüchtig. Armer Kerl eigentlich. Ziemlich primitiv, aber primär zu bedauern, würd ich sagen. Der hat sein Leben lang die Füß nicht auf den Boden gekriegt, und das hat er seine Familie büßen lassen, weshalb er dann erst recht selber hat büßen müssen."
„Inwiefern?"
„Insofern, als sie ihm abgepascht sind, die Hannah und die selige Frau Mama. Vor etlichen Jahren schon. Der sitzt jetzt daheim in seinem Wohnloch und sauft sich zu Tode."
Bronstein hielt diese Aussage für eine treffliche Analyse. Der Vater mochte ein Grobian sein, aber für eine solche Tat kam er nicht in Frage. Nicht, dass Bronstein solchen Typen nicht zutraute, ihre eigenen Kinder zu Tode zu bringen, aber Leute wie der alte Feigl würden sie eher erschlagen als erwürgen. Die Feigls dieser Welt töteten in Raserei, nicht in kalter Berechnung. Sie schlugen im Augenblick des grenzenlosen Zorns auf ihr Opfer ein und waren dann in der Regel selbst am meisten von den Folgen ihres Tuns überrascht, während jemanden zu erwürgen sehr viel kühles Blut voraussetzte. Wenn es also stimmte, dass die Feigl ihrem Galan den Weisel gegeben oder zumindest über eine Beendigung des Verhältnisses laut nachgedacht hatte, dann war der Plachutta definitiv in hohem Maß verdächtig, weshalb man sich in erster Linie an ihn halten sollte, befand Bronstein, ehe ihm bewusst wurde, dass ihn Nemec schon eine gute Weile erwartungsvoll ansah. Bronstein räusperte sich: „Herr Nemec, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mir geholfen haben. Ich hoffe, dass ich den Mörder der Frau Feigl bald dingfest machen kann, und ich garantiere Ihnen, er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen."
„Das hoffe ich auch, und zwar inständig. Sie war so ein liebes Mädel." Nemec standen Tränen der Rührung in den Augen. „Es ist so ungerecht, wenn so gute Menschen vor der Zeit gehen müssen, das ist ... das ist ..." Die Stimme versagte dem Mann, und er wandte sich abrupt ab, um dem Major nicht zeigen zu müssen, dass er zu weinen begann.
„Herr Nemec", bemühte sich Bronstein um Sanftheit, „ich verspreche Ihnen, ich nehme diese Sache persönlich. Ich werde nicht rasten und nicht ruhen, bis ich den Kerl habe. Ehrenwort." Nemec deutete mit seiner linken Hand hinter sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Bronstein trat noch einen Augenblick verlegen von einem Bein auf das andere, dann murmelte er einen Abschiedsgruß und verließ eilig das Geschäft, den Herrn Nemec samt seinem Gram darin zurücklassend.
Wieder auf der Favoritenstraße, blickte er kurz auf die Uhr. Es war Samstag kurz vor 13 Uhr. Was sollte ein Eisenbahner um diese Zeit machen, vorausgesetzt, er hatte nicht Dienst. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er sich innerhalb seiner eigenen vier Wände aufhielt. Bis zum Columbusplatz waren es nur rund 500 Meter, die ließen sich leicht bewältigen. Bronstein marschierte also entschlossen stadtauswärts und hatte bald den Gürtel hinter sich gelassen. Er sah bereits das mächtige Arbeiterheim, das die Sozialdemokraten vor einigen Jahren auf die Laxenburger Straße geklotzt hatten. Das war eigentlich eine beeindruckende Sache gewesen, der auch Bronstein seinen Respekt nicht versagen konnte. Tausende Arbeiter hatten vor etwas mehr als 15 Jahren nicht unbeträchtliche Teile ihres Lohns gespendet, um dieses Volkshaus zu ermöglichen. Gebaut hatte es schließlich irgendein Schüler von Otto Wagner, und den sogenannten Jugendstil sah man dem Gebäude auch deutlich an. Bronstein selbst hatte es freilich nie gewagt, es zu betreten, denn als kaiserlicher Polizist wäre man so in eine unmöglichere Lage gekommen, als wenn man in flagranti in einem Maison de Tolerance erwischt worden wäre. Und doch musste er sich eingestehen, dass er es sich wahnsinnig gern einmal angesehen hätte. Was man so über die eigene kleine Stadt der Roten hörte, klang ziemlich faszinierend. Das Haus beherbergte das größte Kino außerhalb der inneren Stadt. Es hatte einen Theatersaal für mehr als 1.000 Besucher, in dem beinahe täglich Stücke auf Deutsch ebenso wie auf Tschechisch aufgeführt wurden. Es gab Turnsäle, diverse Klubräume und eine Gastwirtschaft mit dem billigsten Ottakringer Bier des ganzen Bezirks. Es hieß, die Häuptlinge der Partei wohnten sogar in diesem Arbeiterheim. Nicht zuletzt fanden praktisch alle ihre Parteitage hier statt, zuletzt erst im Vorjahr, woran sich Bronstein noch gut erinnern konnte, denn die Reden, die dort gehalten worden waren, erwiesen sich jetzt als Wetterleuchten der gegenwärtigen Situation.
Doch Bronstein hatte den Weg nach Favoriten nicht gemacht, um über die Arbeiterbewegung nachzusinnen. Er war gekommen, um Johann Plachutta auf den Zahn zu fühlen. Er überquerte also die Laxenburger Straße und besah sich den beschriebenen Teil des Columbusplatzes. Auf der linken Seite befand sich ein Hotel. Dort würde Plachutta bestimmt nicht sein Quartier haben, also konnte nur das Eckhaus auf der rechten Seite gemeint sein. Bronstein suchte nach der Eingangstür und dann nach der Hausmeisterwohnung. Als auf sein Klopfen reagiert wurde, zeigte er seine Kokarde und erkundigte sich, wo der Herr Plachutta wohne. Man erklärte ihm, der „Pitomec" bewohne Nummer 4 im ersten Stock. Bronstein wusste nicht, dass Pitomec auf Tschechisch Trottel hieß, doch ahnte er anhand des Tonfalls, dass diese Bezeichnung Plachutta nicht unbedingt zur Ehre gereichte.
Er stieg die schmale Treppe hinauf und fand die gesuchte Türnummer. Abermals klopfte er: „Nur herein, wenn's nicht die Polizei ist", flötete Plachutta während des Öffnens der Tür und grinste dabei debil.
„Tja, Pech, Plachutta. Es ist die Polizei", replizierte Bronstein lakonisch und hob erneut seine Kokarde. ...