Der Koch

Autor: Martin Suter
Verlag: Diogenes
Umfang: 320 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Weltweite Finanzkrise, Bürgerkrieg in Sri Lanka und eine Firma, die in aller Verschwiegenheit boomt: ›Love Food‹ fürs diskrete Tête-à-Tête. Politische Gegenwart, Liebesgeschichte, Exotik und Sinnlichkeit – ein Roman, der keinen Wunsch offenlässt.

Leseprobe aus »Der Koch«

Auf dem kurzen Weg von der Tramstation bis zur Theodorstraße 94 wurde Andrea von einem Junkie angebettelt, von einem Dealer angehauen und von einem Autofahrer angemacht. Für den Rückweg würde sie ein Taxi bestellen, auch wenn es früh am Abend war. Und es würde früh sein, das hatte sie sich fest vorgenommen. Gleich beim Betreten seiner Wohnung würde sie sagen, sie wäre beinahe nicht gekommen, so krank fühle sie sich.

Im Treppenhaus roch es, wie es eben in Mietshäusern riecht um diese Zeit. Nur nicht nach Hackbraten, sondern nach Curry. Im ersten Stock standen zwei Tamilinnen in ihren halboffenen Wohnungstüren und schwatzten. Im dritten wartete ein kleiner Junge auf dem Treppenabsatz und verschwand enttäuscht in der Wohnung, als er Andrea sah.

Maravan erwartete sie vor seiner Wohnungstür. Er trug ein buntes Hemd und eine dunkle Hose, war frisch rasiert und frisch geduscht, gab ihr seine lange schmale Hand und sagte: »Willkommen in Maravans Curry Palace.«
Er führte sie herein, nahm ihr den Wein ab und half ihr aus dem Mantel. Überall brannten Kerzen, nur da und dort sorgten ein paar Spots für eine etwas nüchterne Beleuchtung.

»Die Wohnung erträgt nicht viel Licht«, erklärte er in
seinem Schweizerhochdeutsch mit tamilischem Zungenschlag.
Auf dem Wohnzimmerboden, keine zwanzig Zentimeter erhöht, war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Kissen und Tücher dienten als Sitzgelegenheit. An der Wand stand ein Hausaltar mit einer brennenden Deepam. In dessen Zentrum die Statue einer vierarmigen Göttin, die in einer Lotusblüte saß.
»Lakshmi«, sagte Maravan mit einer Handbewegung, als stelle er einen weiteren Gast vor.
»Weshalb hat sie vier Arme?«
»Dharma, Kama, Artha und Moksha. Rechtschaffenheit, Lust, Wohlstand und Erlösung.«

»Ach so«, antwortete Andrea, als wüsste sie jetzt mehr.
Auf einem Tisch an der Wand stand ein Eiskübel neben einem mit einem Batiktuch zugedeckten Computer. Maravan entnahm dem Kübel eine Flasche Champagner, trocknete sie mit einer weißen Serviette, entkorkte sie und schenkte zwei Gläser voll. Das andere Szenario wäre ihr lieber gewesen: Kein Wein im Haus, er hätte das Gastgeschenk öffnen müssen, und sie hätte mit einem weniger schlechten Gewissen auf ihren angeschlagenen Gesundheitszustand zu sprechen kommen können.
Als sie sich zutranken, bemerkte sie, dass er nur die Lippen benetzte.
Er deutete auf den Tisch. »Besondere Mahlzeiten nehmen wir am Boden ein. Stört es dich?«
Sie überlegte kurz, wie er es aufnehmen würde, wenn sie ja sagte, und antwortete dann: »Aber Besteck bekomme ich?«

Es war als Witz gemeint, aber Maravan fragte ganz ernst: »Brauchst du welches?«
Brauchte sie Besteck? Andrea überlegte kurz. »Wo kann ich mir die Hände waschen?«

Maravan führte sie zu seinem winzigen Bad. Sie wusch sich die Hände und tat, was sie immer tat in fremden Bädern: Sie öffnete das Spiegelschränkchen und inspizierte dessen Inhalt. Zahnpasta, Zahnbürste, Zahnseide, Rasierseife, Rasierpinsel, Rasierapparat, Nagelschere, zwei Dosen mit tamilischer Aufschrift, eine gelb, die andere rot. Alles aufgeräumt und sauber wie Maravan selbst.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, war er verschwunden. Sie öffnete die Tür, hinter der sie die Küche vermutete, aber es war das Schlafzimmer. Auch aufgeräumt und nur mit einem Schrank, einem Stuhl und einem Bett ohne Bettgestell möbliert. An einer Wand das Poster eines weißen Strandes mit ein paar Kokospalmen, deren Kronen fast den Sand berührten, im Vordergrund ein verwitterter Katamaran. An der gegenüberliegenden Wand waren Blumentöpfe mit Pflanzen aufgereiht, die sie nicht kannte. An der Wand hinter dem Kopfkissen ein Bild der gleichen Hindugöttin wie im Wohnzimmer, einige Familienfotos, Frauen in Maravans Alter, Kinder, Jugendliche, eine kleine weißhaarige Frau, um die Maravan den Arm gelegt hatte. Und ein älteres formelles, retuschiertes und koloriertes Studiofoto von einem ernsten jungen Paar, vielleicht die Eltern.

Andrea schloss die Tür und öffnete die andere. Sie betrat einen Raum, der aussah wie die Miniaturausgabe einer professionellen Küche. Viel Stahl und viel Weiß und überall Töpfe und Pfannen und Schüsseln. Es war, wie ihr erst jetzt auffiel, der einzige Raum mit einem Geruch, obwohl die Balkontür weit offen stand.

Maravan kam ihr mit einem Tablett entgegen. »Der Gruß aus der Küche«, sagte er und merkte, dass der Satz etwas komisch klang, wenn er in einer Küche ausgesprochen wurde. Sie lachten beide, und Andrea setzte sich auf ihren Platz.
Die Tellerchen enthielten fünf winzige Chapatis, sonst nichts.
Andrea nahm sich eines, roch daran und wollte es in den Mund stecken.
»Moment.« Maravan nahm eine Pipette, die in einem Glasgefäß auf dem Tablett lag, und träufelte drei Tropfen einer Flüssigkeit darauf. »Jetzt.«
Sofort stieg von dem kleinen Fladen ein so fremdartiger und doch vertrauter Duft auf, dass sie ihren Plan aufgab, einen frühen Abgang anzukündigen. »Was ist das?«
»Curryblätter und Zimt in Kokosöl. So duftete meine Jugend.«
»Und wie hast du das eingefangen?«
»Kochgeheimnis.« Auf alle Chapatis träufelte Maravan ein paar Tropfen der Essenz. Dann setzte er sich Andrea gegenüber.
»Du musst eine schöne Jugend gehabt haben, dass du dich gerne an ihren Duft erinnerst.«
Maravan ließ sich Zeit mit der Antwort. Als müsste er erst noch entscheiden, ob seine Jugend schön war. »Nein«, meinte er schließlich. »Aber das wenige, das schön war, roch so.«
Er erzählte ihr von seiner Zeit in Nangays Küchen, der großen, vornehmen und der kleinen, grobgezimmerten. Mitten im Satz entschuldigte er sich, erhob sich geschmeidig von seinen Kissen, verschwand für kurze Zeit und kam mit dem ersten Gang zurück.

Er bestand aus zwei ineinander verschlungenen braunen Bändern, das eine hart und knusprig, das andere geschmeidig und fest. Beide waren aus dem gleichen, seltsam süßlicherdigen Rohstoff gemacht, aber durch ihre grundverschiedene Beschaffenheit schmeckten sie wie Tag und Nacht. Andrea konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Eigenartiges mit so viel Genuss gegessen zu haben.

»Wie heißt das?«, wollte sie wissen. »Mann und Frau«, antwortete Maravan. »Und welches ist die Frau?« »Beides.« Er schenkte ihr Champagner nach – Bollinger Spécial Cuvée, im Huwyler für hundertdreißig Franken auf der Karte –, räumte die Teller ab und ging wieder in die Küche. Sie trank einen Schluck und betrachtete sein volles Glas, von dessen Grund nur noch selten ein von Kerzenlicht erfülltes Bläschen hochstieg.
»Und wie heißt das?«, fragte sie, als er den nächsten Teller vor sie hinstellte.
»Nord-Süd.«

Auf dem Teller lagen drei unregelmäßig geformte hellgelbe Gebilde, wie Steine aus Schwefel. Als sie sie anfasste, fühlten sie sich hart und kalt an, aber als sie es Maravan nachtat und reinbiss, war ihr Inhalt lauwarm und luftig und schmolz zu etwas Geschmeidigem, Freundlichem, das süß nach exotischem Konfekt schmeckte.
Um diese kleinen Eis-Sphären standen Gel-Zylinder in einem anderen Gelb, durch die im Kerzenlicht gelborangefarbene Safranfäden durchschimmerten. Im Mund entfalteten sie sich zu einer weiteren Belohnung für den Mut, in die eisigen Schwefelbrocken gebissen zu haben.
»Das hast du erfunden?«

»Die Zutaten stammen aus einem uralten Rezept, nur die Zubereitung ist von mir.«
»Und der Name bestimmt auch.« »Ich hätte es ebenfalls Mann und Frau nennen können.« Kam es ihr nur so vor, oder war da etwas Anzügliches in seiner Stimme? Es war ihr egal. Bis jetzt war ihr das Essen mit der Hand leichtgefallen, die Gerichte waren alle handlich wie Fingerfood. Aber nun servierte Maravan die Currys.
Drei Teller, auf jedem eine kleine Portion Curry, jedes auf dem Podest einer anderen Sorte Reis präsentiert und mit einem Schlenker Schaum und einem glasierten Zweiglein geschmückt.

»Ladies’-Fingers-Curry auf Sali-Reis mit Knoblauchschaum. Curry vom jungen Huhn auf Sashtika-Reis mit Korianderschaum. Churaa Varai auf Nivara-Reis mit Mintschaum«, verkündete Maravan.

»Was ist Churaa Varai?« »Haifisch.« »Ach.« Er wartete, bis sie zu essen anfing. »Du zuerst«, forderte sie ihn auf und sah ihm zu, wie er mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger den Reis mit etwas Curry zu einem Bällchen formte und in den Mund steckte. Beim ersten Versuch stellte sich Andrea noch etwas ungeschickt an, aber sobald sie den ersten Bissen im Mund hatte, achtete sie nicht mehr auf die Technik, nur noch auf den Geschmack. Es war, als könnte sie jedes Gewürz herausschmecken. Als würde jedes einzeln explodieren und das Ganze sich zu einem sich immer wieder neu formierenden Feuerwerk entfalten.

Auch die Schärfe war genau richtig. Sie brannte nicht auf der Zunge, machte sich kaum bemerkbar und hielt sich für den Abgang bereit. Und auch dann verhielt sie sich wie ein zusätzliches Gewürz, eine letzte Intensivierung des Geschmackserlebnisses, und hinterließ eine wohlige Wärme, die in der Zeit, die Andrea brauchte, um einen neuen Bissen zu formen, sanft verebbte.
»Hast du Heimweh?«, fragte sie.
»Ja. Aber nicht nach dem Sri Lanka, das ich verließ. Nur nach dem, in das ich zurückkehren möchte. Ein friedliches. Ein gerechtes.«
»Und vereintes?«

Maravans Rechte bewegte sich, als hätte sie sich losgelöst von seinen Hirnbefehlen und erfüllte nun selbständig die Aufgabe, ihren Besitzer zu füttern. Dieser hatte seinen Blick fest auf seinen Gast gerichtet, und wenn der Mund sprach, wartete die Hand mit ihrem Bissen respektvoll und in diskreter Distanz.

»Alle drei? Friedlich, gerecht und vereint? Das wäre schön.« »Aber du glaubst nicht daran.« Maravan zuckte mit den Schultern. Als wäre dies das
Zeichen, auf das sie gewartet hatte, setzte sich die Hand in Bewegung, schob ein Reisbällchen in den Mund und machte sich daran, ein neues zu formen.
»Lange habe ich daran geglaubt. Sogar meine Stelle als Koch in Kerala habe ich aufgegeben und bin nach Sri Lanka zurückgekehrt.«

Maravan erzählte von seiner Ausbildungszeit in Kerala und seiner Karriere in verschiedenen Ayurveda Wellness Resorts. »Noch ein Jahr, und ich wäre Chef gewesen«, seufzte er.

»Und warum bist du zurückgegangen?« Andrea hatte ein Stück Chapati mit Korianderschaum in der Hand und konnte es kaum erwarten, es in den Mund zu schieben. Sie hatte nicht gewusst, wie viel sinnlicher es war, mit der Hand zu essen.

»2001 gewann die United National Party die Neuwahlen. Alle glaubten an den Frieden, die LTTE rief eine Waffenruhe aus, in Oslo begannen Friedensverhandlungen. Es sah aus, als wäre endlich das Sri Lanka im Entstehen, in das ich zurückwollte. Und ich musste von Anfang an dabei sein.«
Er tauchte seine Finger in die Fingerschale, trocknete sie mit der Serviette, stellte die Teller zusammen und stand auf, alles in einem einzigen, fließenden Bewegungsablauf, wie es Andrea vorkam.

Sie sah ihn in der Küche verschwinden. Als er kurz darauf wieder herauskam, trug er vorsichtig eine lange, sehr schmale Platte, in deren Mitte nichts als eine Reihe exakt ausgerichteter glänzender Bälle lag. Sie sahen aus wie kleine alte Billardkugeln aus nachgedunkeltem Elfenbein, waren warm, besaßen eine Konsistenz wie kandierte Früchte und schmeckten süß und scharf nach Butter, Kardamom und Zimt.

»Und dann?«, fragte Andrea, wie ein Kind bei der Gutenachtgeschichte.
»Ich fand eine Stelle als Commis in einem Hotel an der Westküste.«
»Als Commis?«, unterbrach sie ihn. »Ich dachte, du warst beinahe Chef?«
»Aber auch Tamile. In Kerala spielte das keine große Rolle. Im singhalesischen Teil Sri Lankas schon. Ich arbeitete fast drei Jahre als Commis.«
Andrea biss bereits in die zweite der polierten Kugeln. »Dabei bist du ein Künstler.«
»2004 bekam ich meine Chance. Die Hotelkette, bei der ich angestellt war, hatte im Hochland aus einer Teefabrik ein Boutique-Hotel gemacht und mich dort zum Chef de Partie ernannt.«

»Und weshalb bist du nicht geblieben?« »Der Tsunami.« »Im Hochland?« »Er hatte das Hotel an der Küste zerstört, und einer der überlebenden singhalesischen Köche hat meine Stelle bekommen. Ich musste zurück in den Norden. Und dort erlebte ich, wie die LTTE und die Regierung die Hilfslieferungen der ganzen Welt dazu benutzten, ihre Politik zu betreiben. Da wusste ich, dass dies nicht das Sri Lanka war, in das ich hatte zurückkehren wollen.« Er naschte jetzt auch von einer Kugel und legte sie in seinen Teller zurück. »Und noch lange nicht sein würde.«

»Der Tsunami ist doch gar nicht so lange her.« »Etwas über drei Jahre.« »Und weshalb sprichst du schon so gut Deutsch?«
Maravan zuckte mit den Schultern. »Wir haben gelernt, uns anzupassen. Dazu gehört Sprachen lernen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Chuchichäschtli.«
Andrea lachte. »Und warum die Schweiz?«
»In den Ayurveda Resorts in Kerala und in den Hotels in Sri Lanka gab es viele Schweizer. Die waren immer freundlich.«
»Hier auch?«
Maravan überlegte. »Hier werden die Tamilen besser behandelt als in ihrer Heimat. Es gibt hier fast fünfundvierzigtausend von uns. – Tee?«
»Wenn du meinst.« Er räumte das benutzte Geschirr ab. »Ist es eigentlich okay, dass ich einfach hier sitze und mich edienen lasse?« »Heute hast du frei«, antwortete er und verschwand in der Küche. Nach einer Weile brachte er ein Tablett mit einem Teeservice und schenkte ein. »Weißer Tee. Aus den silbernen Blattspitzen des Tees vom Hochland bei Dimbula«, kommentierte er, ging zurück in die Küche und brachte für jeden einen Teller mit Konfekt. Ein grüngesprenkelter Eislutscher, umgeben von kleinen Spargeln mit giftgrünen Spitzen und herzförmigen dunkelroten Plätzchen.
»Ich glaube, ich kann nichts mehr essen.« »Konfekt kann man immer essen.« Er hatte recht. Der Lutscher schmeckte nach Lakritze, Pistazien und Honig, wie eine Jahrmarktsleckerei. Die Spargel aßen sich wie Gummibärchen und schmeckten intensiv nach – Spargel. Die Herzchen waren süß und scharf, dufteten nach einem indischen Markt und schmeckten – es fiel ihr kein besseres Wort ein – frivol.

Plötzlich wurde sie sich der Stille bewusst, die zwischen ihnen entstanden war. Auch der Wind hatte aufgehört, seine Regenböen auf das Fenster zu treiben. Irgendetwas ließ sie sagen: »Zeigst du mir Fotos von deiner Familie?«
Ohne ein Wort stand Maravan auf, zog sie auf die Beine und führte sie ins Schlafzimmer zur Wand mit den Fotos.
»Meine Geschwister und einige ihrer Kinder. Meine Eltern, sie kamen 1983 um, ihr Auto wurde angezündet.«
»Weshalb?« »Weil sie Tamilen waren.« Andrea legte die Hand auf seine Schulter und schwieg.
»Und die alte Frau ist Na ...« »Nangay.«
»Sie sieht weise aus.« »Sie ist weise.« Wieder entstand eine Stille. Andreas Blick wanderte zum
Fenster. In dem schwachen Licht, das aus dem Schlafzimmer in die Dunkelheit drang, sah sie Schneeflocken tanzen. »Es schneit.«
Maravan sah kurz zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Jetzt stand er da und sah sie unentschlossen an.

Andrea fühlte sich satt und zufrieden. Und dennoch nagte da noch immer ein kleiner Hunger. Erst jetzt wurde ihr klar, wonach.
Sie ging auf ihn zu, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küsste ihn auf den Mund.

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