Wir sitzen im Dickicht und weinen

Autor: Felicitas Prokopetz
Verlag: Eichborn Verlag / Bastei Lübbe AG
Umfang: 208 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Valerie hat nicht die einfachste Beziehung zu ihrer Mutter. Am besten klappt es, wenn die beiden einander nur selten sehen. Doch eine Krebsdiagnose schafft neue Tatsachen – vom einen Tag auf den anderen muss Valerie für ihre Mutter da sein, ganz gleich, wie schwer ihr das fällt. Und sie bekommt es mit der Angst zu tun: Was, wenn dies tatsächlich das Ende ist? Als zeitgleich Valeries Sohn beschließt, ein Schuljahr im Ausland zu verbringen, droht ihre Welt vollends aus den Fugen zu geraten.

»Ein kluger, vielschichtiger Roman, der traurig-schön davon erzählt, was Familie mit uns macht.« CAROLINE WAHL

Leseprobe aus "Wir sitzen im Dickicht und weinen"

Die Blumen auf Mamas Balkon haben den Sommer nicht überstanden. Wir graben verfaulte Wurzeln aus der Erde, ziehen Pflanzen aus den Kübeln, werfen sie auf einen Haufen. Mama bringt einen Müllsack, in dem wir die Überreste verschwinden lassen, und einen Besen, mit dem ich die Erde von den Steinplatten kehre.

Im Auto am Weg zum Blumengroßmarkt zeigt sie mir blaue Flecke auf ihrem Unterarm. Sie versteht nicht, wo die herkommen. Ich mache Vorschläge: Vielleicht lag der Arm nachts auf der Bettkante und sie auf dem Arm? Mückenstiche, die sich entzündet haben?

»Ich glaub, ich hab auch wieder Fieber«, sagt sie.

»Das Fieber war doch von der Angina?«

»Hat die Doktor Kloiber gesagt.«

»So was kann dauern.«

»Zwei Monate?«

»Hast du sie angerufen und ihr gesagt, dass du dich immer noch schlecht fühlst?«

»Damit sie mir wieder Antibiotika verschreibt?«

»Also, wenn ich mich zwei Monate lang schlecht fühle, gehe ich davon aus, krank oder depressiv zu sein …«

»Darf ich mich vielleicht einfach mal schlecht fühlen?«, schreit Mama plötzlich los. »Hältst du das echt nicht aus, wenn es einmal um mich geht und nicht um dich?«

Meine Hände schließen sich fester ums Lenkrad.

Von sehr weit weg höre ich mich langsam und ruhig sagen:

»Du musst aufhören zu schreien, oder du steigst aus.«

Da spurt ein Auto um, ohne zu blinken. Ich bremse scharf.

»Du Arschloch!«, ruft Mama und lässt sich darüber aus, wie gefährlich Männer im Allgemeinen und ganz besonders im Straßenverkehr sind.

Glück gehabt; sie richtet ihre Wut neu aus.

Direkt vor dem Blumengroßmarkt ist kein Parkplatz mehr frei, ich parke vor dem Supermarkt, der sich ebenfalls auf dem Gelände befindet. Mama ist schwindlig. Da hilft auch das Cola, das ich ihr hole, nichts, sie wird im Auto bleiben, und ich werde die Blumen besorgen. Geranien sollen es wieder sein, in hellem Rosa.

»Ich brauche im Moment vor allem Liebliches um mich«, sagt sie.

Außerdem soll ich Küchenkräuter kaufen, fügt sie hinzu, und ich muss an den Liebstöckelbusch denken, den wir in meiner Kindheit heimlich in eine Ecke unseres Beserlparks pflanzten. Wirklich heimlich, nämlich nachts, da jede Wohnung unseres Hauses Fenster auf den kleinen Park hinaus hatte und es nicht erlaubt war, eigene Kräuter in einen öffentlichen Park zu pflanzen. Mama stellte den Wecker auf drei Uhr morgens. Es sollte möglichst schnell gehen, also blieben wir in unseren Nachthemden, nur Schuhe und Jacken zogen wir über. Mama trug den Plastiktopf mit dem Liebstöckel und einen kleinen Sack Erde. Ich hatte eine Schaufel und meine alte, mit Wasser befüllte Sandkisten-Gießkanne dabei. Mit leisen Schritten durch das dunkle Stiegenhaus drei Stockwerke hinab, durch die Haustür in den Park. Die Stelle hatten wir schon lange ausgesucht.

Mama grub ein Loch, das sie mit der guten Erde, die wir dabei hatten, ein wenig auffüllte, bevor sie den Liebstöckel aus dem Blumentopf nahm und in die Erde setzte. Ich goss ihn mit meiner Gießkanne. Ich stelle mir vor, wie heute eine andere Mutter ihre Tochter in den Park schickt, um möglichst unauffällig ein paar Blätter für die Salatmarinade oder die Suppe zu pflücken.

»Glaubst du, im Beserlpark wächst immer noch unser Liebstöckel?«, frage ich Mama.

»Bestimmt«, antwortet sie und lächelt matt.

Eine halbe Stunde später kehre ich mit mehreren Kartonsteigen, die ich mit viel Geschick auf einen Einkaufswagen verteilt habe, zum Auto zurück. Mama ist eingeschlafen. Ich befülle den Kofferraum mit hellrosa Geranien, Schnittlauch, Oregano, Minze, Liebstöckel und starte das Auto. Mama wacht auf, sieht mich verwirrt an.

»Ich glaube, ich muss doch zur Doktor Kloiber. Irgendwas stimmt nicht mit mir.«

»Heute haben wir statt Englisch Infostunde zum Austauschjahr«, sagt Tobi beim Frühstück.

»Wir haben doch noch gar nicht entschieden, ob du den Austausch machst.«

»Ich mach den ganz sicher. Papa findet es auch gut und würde die Hälfte bezahlen.«

»Dann ist es immer noch sehr teuer.«

»Ich leg mein Erspartes drauf.«

Tobis Ton ist beiläufig, als teilte er mir aus Freundlichkeit mit, was ohnehin schon feststehe.

»Nadim und Jonas machen es auch.«

»Nadim, Jonas und du ein Jahr lang ohne Eltern in England.

Schöne Vorstellung.«

»Du kannst es mir nicht verbieten. Ich bin erwachsen«, erwidert Tobi scharf.

»Du bist nicht erwachsen, du bist sechzehn.«

»Und du kannst mich nicht für immer kontrollieren!« Er springt auf.

»Ich sehe genau hin, weil du mir wichtig bist und Teenager manchmal unvernünftig handeln. Das hat doch nichts mit Kontrolle zu tun.«

Ich lüge.

Kann ihm nicht sagen, dass die Angst, ihn zu verlieren, mächtiger ist als alles andere: Autounfall, Sportunfall, insbesondere Skiunfall, Lawinenunglück, alkoholisiert schwimmen gehen, Feuer.

Kopfsprung in einen See, der tiefer aussieht als er ist, Überfall, Schlägerei, Musik hören und Auto nicht hören, Zugunglück, Flugzeugabsturz, Busunglück, Seilbahnunglück.

Nachricht tippen und Lastwagen nicht sehen, Entführung, Menschenhandel, Organhandel. MDMA nehmen und Herzstillstand, gewalttätige Polizisten, betrunken erfrieren. Tobi.

Das Telefon läutet, und eine unbekannte Stimme fragt mich, ob ich die Mutter von Tobias Steinberg bin. Ein Fremder steht in der Tür und teilt mir mit, dass meinem Sohn etwas zugestoßen ist. Die Angst, dass meine vielen Ängste um Tobi die Katastrophe erst anziehen.

»Den musst du noch unterschreiben.«

Tobi hält mir einen nicht bestandenen Physik-Test vors Gesicht. Ich unterschreibe.

»Über das Austauschjahr reden wir noch, und darüber auch«, sage ich und deute auf den Test.

Er reißt mir das Blatt aus der Hand und stürmt aus dem Zimmer. Ich eile hinterher. Meine Angst, ihm könnte etwas zustoßen, verbietet mir, ihn im Streit gehen zu lassen.

»Tobilein, lass uns nicht streiten.«

»Okay«, murmelt er.

»Hast du deine Jause eingepackt? Was zum Trinken?«

»Ja.«

»Alles dabei, was du heute brauchst?«

»Glaub schon.«

»Glaubst du es, oder weißt du es?«

»Ich weiß es.«

»Gut, mein Schatz. Hab einen schönen Tag!«

Ich sehe ihm nach, bis er auf den Stiegen aus meinem Blickfeld verschwindet, gehe zurück in die Wohnung und schließe erleichtert die Tür. Er hat das Haus rechtzeitig verlassen, hat alles dabei, was er braucht. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen.

Seit Tobi Umarmungen nach Möglichkeit ausweicht, keinen Trost mehr in meinen Armen sucht, es ihn stört, wenn ich ihm übers Haar streiche, schaffen seine getragenen Hoodies Abhilfe. Ich gehe in sein Zimmer, hebe einen vom Boden auf, schlüpfe hinein. Er ist mir zu groß, also schiebe ich die Ärmel hoch, dann greife ich an den Halsausschnitt, ziehe den Stoff zu meiner Nase und nehme ein paar tiefe Atemzüge. Ich streife die Kapuze über und beginne, Tobis Zimmer aufzuräumen. Ich weiß, ich sollte es nicht tun, aber es geht ganz schnell. Kleidungsstücke aufheben und in die Schmutzwäsche oder zusammenfalten und in den Schrank. Halb leere Plastikflaschen und Geschirr mit Essensresten in die Küche. Bücher und Unterlagen aufsammeln und am Schreibtisch stapeln. Das Bett machen, das Fenster öffnen, kurz lüften.

Frauen mit mehr als einem Kind fehlt, glaube ich, die Kraft zum Hinterherräumen. Ich kratze zwar immer an der Überforderung, bin aber im Flow.

Im Flow sein ist ein gutes Gefühl, ein ständiger Schaffensprozess. Andere finden es merkwürdig, wenn ich hinter Tobi herräume, Friseurtermine für ihn vereinbare, ihm an Wochenenden das Frühstück ans Bett bringe, wo er es allein zu sich nimmt, während er irgendwelchen Gamern beim Gamen zusieht. Sie verstehen nicht, dass ich dabei etwas erschaffe. Das Jugendzimmer, das sich sehen lassen kann. Den Sohn mit adrettem Haarschnitt. Eine Mutter, die Frühstück ans Bett bringt. Ich greife nach einem Buch, das unter dem Schrank hervorlugt. Dabei rutscht der aufgeschoppte Ärmel von Tobis Hoodie an meinem Arm herunter. Ich betrachte ihn erstaunt. Wie viel Stoff da noch ist, wo meine Hand längst aufgehört hat.

Der Macht, die ich im Flow empfinde, das wird mir mit einem Mal klar, steht eine Ohnmacht gegenüber. Sie ist bestimmt von der Tatsache, dass die Zeit voranschreitet, dass jedes Leben, das ich für Tobi und mich erschaffe, nur von kurzer Dauer ist. Kaum habe ich uns in einem Lebensabschnitt gut eingerichtet, ist er vorbei, und ein neuer beginnt. Mit dem fünfjährigen Tobi musste das Leben anders eingerichtet werden als mit dem vierjährigen. Sechzehn ist anders als fünfzehn.

Ich erschrecke.

Die letzten sechzehn Jahre war ich so damit beschäftigt, unsere Welt immer wieder neu zu erschaffen, dass ich nicht sehen konnte, was am Ende dieses Schaffensprozesses stehen wird: Ein Leben, in dem ich mich als mütterliche Erschafferin abgeschafft haben werde.

»Ich habe Krebs.«

Mamas Stimme am Telefon klingt heiser. Die blauen Flecke, was bin ich für ein Trottel.

»Ist es sicher?«, frage ich trotzdem.

»Sicher«, antwortet Mama.

Sie wird jetzt sofort an die Universitätsklinik überstellt, wo es eine Spezialabteilung gibt und weitere Untersuchungen gemacht werden sollen.

»Gestern waren die hier total gemütlich, und jetzt haben es auf einmal alle ganz eilig. Das kann nichts Gutes heißen.«

Sie weint.

»Ist doch gut, wenn sie Tempo machen. Dann wissen wir schneller, was zu tun ist«, versuche ich, sie zu beruhigen, verlange, von ihr angerufen zu werden, sobald sie mehr weiß, und verspreche zu kommen, sobald ich kann.

Acht Stunden später betrete ich die Universitätsklinik.

»Valerie Steinberg, ich besuche meine Mutter Christina Kerner«, sage ich zu dem Herrn am Informationsschalter, der mir Abteilung und Zimmernummer nennt.

Ich haste durch die riesige Eingangshalle, folge der Beschilderung, fahre mit dem Aufzug in den vierten Stock und suche auf Station sechs nach Zimmer siebenundvierzig.

Alles hier ist gelb. Die Türen dottergelb, die Wände hellgelb, der Boden gelb mit Abnutzungsschwarz. Ich gehe die Gänge der Station zweimal ab, ohne das Zimmer zu finden, an den Wänden Mutmachsprüche in übergroßer Schrift und Fotos mit Bergpanoramen, Sandstränden und Himmelsstimmungen, ich lese: Die Sonne scheint jeden Tag, wir müssen nur lernen, sie auch hinter dicken Wolken zu erkennen.

»Ach, das war’s«, murmle ich, versuche hinter den Wolken in meinem Kopf ein Stück Himmel zu entdecken – und jetzt bemerke ich auch meinen Fehler. Ich bin auf Gelb und muss auf Blau.

Auf Blau müssen. Zimmer siebenundvierzig suchen. Eine Mutter haben, die Krebs hat. Seit Mamas Anruf ist es, als wäre ein Leck in meine Welt geschlagen. Die Wirklichkeit rinnt aus.

Mit dem Fahrstuhl zurück ins Erdgeschoss, diesmal steige ich in den blauen Lift, ich finde Zimmer siebenundvierzig, schaue aufs Handy. Sieben Uhr neunundzwanzig. Besuchszeit endet um acht. Immerhin: noch eine halbe Stunde.

Mama trägt ein Spitalshemd, darüber ihre Kaschmirweste, an den Füßen Flauschesocken. Sie sitzt am Bett und hat die Augen geschlossen. Ich setze mich an die Bettkante, berühre sie sanft, sie öffnet die Augen und sieht mich traurig an. Ich hatte am Telefon erklärt, dass heute Redaktionssitzung ist, dass ich da nie genau sagen kann, wann ich wegkomme; das ändert aber nichts daran, dass ich sie enttäuscht habe.

»Wie fühlst du dich?«

Mama sagt nichts; stattdessen ergreift ihr stiller Vorwurf Besitz vom Zimmer. Eine Kletterpflanze, deren schales Grün von Sumpf und Schatten erzählt. Sie wuchert. In Sekundenschnelle vom Bett aus auf den Boden, zu den Wänden hin, an denen sie hochklettert, die Decke entlang und wieder nach unten. Verschluckt Tisch, Sessel, Schrank, Türen, Fenster, im Zimmer wird es dunkler, riecht modrig.

Ich verstehe, dass eine Krebsdiagnose keinen Aufschub duldet, stelle mir vor, wie schwer die vergangenen Stunden für Mama waren, weiß, dass sie jemanden an ihrer Seite braucht.

Warum nur, denkt es in mir, muss ich dieser Jemand sein.

»Ich lebe so gern«, sagt Mama in die Stille.

Die Tränen, die ich den ganzen Tag zurückgehalten habe, drängen nach draußen. Ich greife nach Mamas Hand und lege sie zwischen meine Handflächen.

Wir sitzen im Dickicht und weinen.

»Vati, was isch e Putsch?«, fragt die neunjährige Martha, die später einmal Christinas Mutter und noch später Valeries Großmutter sein wird, ihren Vater an einem Dienstagmorgen des Jahres neunzehnhundertvierunddreißig. Der Vater legt die Zeitung zur Seite.

»We du u ds Vreni öich zämeschliesset u dir i öirer Klass no es paar Meitschi findet, wo zu öich haute, jedi vo öich chlaut es Gwehr u de göht dir mit de Gwehr zum Direktor Wäber, gheiet ne us dr Schueu u wärdet säuber Direktorinne vor Schueu. Das isch e Putsch.«1

Die Mutter dreht sich mit einem nassen Teller in der Hand vom Spülbecken zum Tisch: »Geits euch eigentlich no?«

Unser Gespräch gefällt ihr also nicht, denkt Martha, bloß warum? Sie darf doch wissen, was in der Zeitung steht, die der Vati liest. Er liest ihr ja manchmal sogar daraus vor und erklärt ihr alles, was sie nicht versteht, ganz genau.

Denkt das Mueti vielleicht, er bringt mich mit seiner Erklärung auf Ideen, und ich gründe wirklich eine Bande und werfe den Direktor aus der Schule? Das Mueti weiß doch, wie gern Martha in die Schule geht, was für eine gute Schülerin sie ist, dass sogar der Herr Direktor Weber sie schon gelobt hat. Wie viel Mühe sie sich mit allem gibt. Lesen, Schreiben, Rechnen, Gedichte aufsagen, Handarbeit, Zeichnen, Bratsche spielen. Alle loben ihren Fleiß, nennen sie begabt im Rechnen und beim Zeichnen. Die schönsten Zeichnungen hebt sie fürs Mueti auf. Aber dem Mueti gefallen sie nicht. Sie streicht Martha mit steifer Hand kurz über den Kopf, bedankt sich.

Nie hängt oder stellt sie eines der Bilder auf.

Er sei auf dem Heimweg in den Bratschelehrer gelaufen, der habe Marthas musikalisches Talent über den grünen Klee gelobt, gar nicht mehr aufhören wollte er, erzählte der Vati gestern, als er im Gang seinen Mantel auszog und ihn dem Mueti reichte. Das ist ja schön, antwortete das Mueti, aber Martha kann die richtigen Töne vom Mueti von ihren falschen unterscheiden und hat sofort bemerkt, dass sie es nicht so meint. Wie denn auch, wo sie immer über Marthas Katzenmusik jammert und die Augen verdreht, sobald sie mit dem Üben beginnt?

Alles ist beim Mueti anders als beim Vati. Mit ihm kann sie immer reden, ihn alles fragen. Ist sie anderer Meinung als er, stört es ihn nicht, im Gegenteil, es macht ihm Spaß. Mit dem Mueti ist jedes Gespräch nach wenigen Minuten beendet. Wegen jeder Kleinigkeit ist sie böse.

Wenn Martha nur wüsste, was sie bei ihr falsch macht, wie sie es besser machen könnte. Der Vati, denkt Martha, versteht das Mueti auch nicht immer, so wie jetzt, wo er seine Zeitung wieder aufnimmt und eine Augenbraue hebt, sobald sein Gesicht dahinter verschwunden ist. Aber dem Vati wirft das Mueti manchmal die Arme um den Hals und küsst ihn auf den Mund oder bestaunt ihn, wenn er etwas erzählt. Oder sie nimmt einfach seine Hand und streichelt sie. Dabei wird ihr Blick so warm, dass Martha spüren kann, wie er die Luft zwischen dem Mueti und dem Vati aufheizt. Ein bisschen von dieser Wärme strahlt dann sogar auf Martha ab, kribbelt in ihrem Gesicht, macht, dass ihre Wangen heiß werden. Einen Stich gibt es ihr aber auch, weil alles Warme vom Mueti für den Vati ist und sie, Martha, nichts davon haben darf. Den Vati, denkt Martha, hat das Mueti von selbst lieb; deshalb ist es für ihn nicht so wichtig, sie zu verstehen, wie für mich.

Sie betrachtet den zierlichen Rücken ihrer Mutter, die grünen Bänder der Schürze, zusammengebunden in ihrer schlanken Taille. Fast immer steht das Mueti, sitzen mag sie nicht,

»Umehocke« sagt sie dazu und dass das einfach nichts für sie ist. Wenn der Vati nicht zu Hause ist, ist es ihr sogar da zu eng, und sie geht lieber Einkäufe erledigen oder eine Freundin besuchen. Ist sie fort, übt Martha Bratsche, macht Hausaufgaben. Meistens hat ihr das Mueti auch kleine Arbeiten aufgetragen. Also schält Martha Kartoffeln, putzt Schuhe, fegt den Boden. Dass das Mueti am Nachmittag oft lange fort ist, ist Frauensache, sie haben abgemacht, dem Vati nichts davon zu sagen, und weil es schön ist, etwas zu haben, das nur dem Mueti und ihr gehört, wird Martha sich ganz sicher nie über die einsamen Nachmittage beschweren.

Wenn sie das Mueti so lange anschaut, würde sie gern zu ihr laufen, von hinten die Arme um sie schlingen, den Kopf an ihren Rücken legen, ihren blumigen Geruch einatmen. Martha weiß aber, dass das Mueti sich erschrecken würde.

Rufen würde: »Was isch de das iz wider?«2, sich aus Marthas Griff befreien, sie von sich wegschieben würde, wieder böse auf sie wäre. Und deshalb hält Martha sich lieber an den Vati.

»Vati?«, fragt sie mit gespieltem Staunen, »wiso hesch du eigentlech so viu Haar uf dine Arme?«

Der Vati schaut hinter der Zeitung hervor, grinst.

»Eh, wüu i e Bär bi.«

»E liebe Bär?«

»Wowou. Solang i ke Hunger ha …«

»Was isch de denn?«, fragt Martha und spürt, wie die Aufregung an ihr hinaufkriecht.

»Denn suechen i mir es chlises Meitschi u frisses rübis u stübis uf«3, sagt der Vati und springt auf.

Kreischend nimmt Martha Reißaus, der Vati ihr nach, mit ausgestreckten Armen, bis er sie schließlich fängt und unter Bärengebrumm verschlingt.

Es gibt zwei Möglichkeiten, Mamas Krankheit zu behandeln: Versuchen, sie durch lebenslange Einnahme von Medikamenten mit starken Nebenwirkungen in Schach zu halten, oder einen gefährlichen Eingriff wagen, der Heilung verspricht. Mama will richtig gesund werden, deshalb kommt für sie nur das Wagnis infrage. Ich habe recherchiert, wie die Chancen stehen, einen solchen Eingriff zu überleben, und wünschte nun, ich hätte es nicht getan.

Mama geht es gar nicht gut. Von jedem Essen wird ihr übel. Sie hat starkes Kopfweh. Sie will leben, denkt aber dauernd Tod.

Ich sage: »Die Chemotherapie macht die Übelkeit. Das Kopfweh kommt vom Fieber. So schnell stirbt man nicht.«

Es sind Notfallsätze, mit denen ich Mama und mir Erste Hilfe leiste und die das Schlimmste abwenden sollen.

Ich sage: »Die Übelkeit ist nur am Anfang. Das Fieber wird bald sinken. Du lässt den Eingriff machen und wirst gesund.«

Erklärsätze, die Kausalität vorgaukeln, während uns Mamas Krankheit für immer aus der uns bekannten Wenn-das-danndas-Welt katapultiert hat.

Ich sage: »Morgen wird es besser sein. Bald ist das Schlimmste überstanden. Ich weiß, du schaffst das.«

Hoffnungssätze. In meinem Kopf werden sie von Verzweiflungssätzen sabotiert:

»Sie könnte sterben. Du solltest darauf vorbereitet sein, dass sie sterben kann. Bereite dich darauf vor, dass deine Mama vielleicht bald stirbt.«

Ich versuche das zu denken. Ich lebe, und Mama ist tot. Mama stirbt, und ich lebe weiter. Ein Leben ohne Mama. In meinem Kopf verhakt sich etwas, der Gedanke wird aufgehalten.

Stattdessen sehe ich englische Wörter, von Mama mit violettem Filzstift an die Wand neben mein Kinderbett geschrieben: flower, house, dog, moon, sun, bicycle, table, chair. Dazu jeweils eine Zeichnung, die das Geschriebene darstellt. Ich habe lesen gelernt und will auch englische Worte lesen können.

Rieche Mamas Parfum, das sie auf die Innenseite ihrer Handgelenke sprüht und dann an ihrem Hals verreibt. Es ist der letzte Schritt der minutenschnellen, wundersamen Verwandlung, die sie durchmacht, wenn sie samstags gegen Mittag einen Mantel über ihr Nachthemd zieht, barfuß in ihre Stiefel schlüpft, knallroten Lippenstift aufträgt und die Wohnung verlässt, um beim Bäcker noch schnell Milch zu holen.

Spüre Mamas Fingerspitzen auf meinen Unterarmen ganz sachte vom Handansatz zum Ellenbogen trippeln und wieder zurück. Ich habe die Augen geschlossen. Wenn Mama aufhört, reiße ich sie auf, sage »ein bisschen noch« und »bitte« und

»Mama, bitte noch ganz ein bisschen«, und sie macht weiter, und ich die Augen wieder zu.

Stehe an einem Sommerabend in Mamas Arme geschmiegt am Fenster, schaue in die Dämmerung über dem Beserlpark und lausche dem Abendgesang der Vögel. Vogelkonzert nannte Mama das, und in den langen Sommern meiner Kindheit haben wir kaum eines verpasst.

Liebe Trauernde,

eine meiner ersten Erinnerungen an meinen Vater ist die an den Bussiwecker, ein von ihm ausgedachtes Lied, um mich morgens aus dem Bett zu kriegen.

Es geht so:

Die Vali ist ’ne müde Maus,

will aus dem Bettchen nicht heraus. Was da der Papa machen kann?

Er dreht den Bussiwecker an!

Das ist der Bi-, Ba-, Bussiwecker, der weckt dich auf. Das ist der Bi-, Ba-, Bussiwecker, da schwör ich drauf.

Jetzt ist das Mäuschen endlich wach. Will aber liegen bleiben, ach.

Was da der Papa machen kann? Er dreht den Bussiwecker an!

Das ist der Bi-, Ba-, Bussiwecker, der weckt dich auf. Das ist der Bi-, Ba-, Bussiwecker, da schwör ich drauf.

Beim Refrain des Liedes bekam ich echte Bussis ins ganze Gesicht, denen ich unter Protest, aber lachend auszuweichen versuchte. Ich war hellwach, der Tag konnte beginnen.

Mama schläft gern lang, also gehörte der Morgen stets Papa und mir. In der Küche wartete mein Kakao, später bestand ich darauf, wie mein Vater morgens Kaffee zu trinken. Malzkaffee mit Honig und Milch, irgendwann dann echten Kaffee, über dessen perfekte Zubereitung mein Vater mich alles gelehrt hat, was es darüber zu wissen gibt, und den ich mir für immer mit jener Sorgfalt zubereiten werde, die er mir beigebracht hat.

Beim Frühstück erzählten wir einander unsere Träume. Gefielen sie uns nicht, dachten wir uns neue Verläufe oder andere Enden für sie aus. Zu Beginn des Gymnasiums erklärte Papa mir das Konzept der Freud’schen Traumdeutung. Wir begannen, unsere Träume gemeinsam zu deuten, und verstiegen uns dabei zu immer kruderen Theorien darüber, was sein oder mein Unbewusstes uns wohl mitteilen wolle.

Der Hang zum Absurden verband uns. Schon früh begann Papa damit, mir aus Büchern oder Zeitungen Dinge vorzulesen, die darin gar nicht standen, und die er so auf die Spitze trieb, dass ich es früher oder später bemerken musste. Mit den Jahren entwickelte auch ich in dieser Disziplin Meisterschaft. Es galt, glaubwürdig zu starten, vielleicht etwas ungewöhnlich, aber jedenfalls realistisch, und den ausgedachten Text langsam kippen zu lassen. Früher oder später erkannten er oder ich, was im Gange war, Außenstehende fielen darauf jedoch regelmäßig herein.

Außenstehende, das waren die meisten. Außer Mama, die in unserem Bündnis eine Art Ehrenmitgliedschaft innehatte, gab es fast niemanden, den wir in unsere Geheimnisse und Gebräuche einweihten. Die meisten unserer Blicke, Gesten und Codewörter verstanden nur er und ich.

Wie ihr wisst, hielt uns das nicht davon ab, die Gesellschaft anderer sehr zu genießen. Genau wie ich liebte Papa große Runden.

Er war das Zentrum der unzähligen schönen Feste, die in unserem Haus gefeiert wurden, und ich sehe in euren Reihen viele, die immer wieder seine und unsere Gäste waren. Für manche dieser unvergesslichen Feste gab es Anlässe im Jahreskreis, manchmal sagte Papa aber auch einfach: »Mir ist nach Party, was meint ihr?« Und wenn wir einverstanden waren, also eigentlich immer, begann er sofort, sich in Vorbereitungen zu stürzen. Es war Papa, der sich ein Motto ausdachte, einlud, manchmal tagelang in der Küche stand und kochte, die Wohnung dekorierte.

Die Großzügigkeit, mit der er seine Gäste empfing, seine ungebremste Freude daran, ihnen etwas Gutes zu tun, das Interesse und die Offenheit, mit der er den Gefühlen und Gedanken anderer begegnete, sind mir seit meiner Kindheit ein großes Vorbild gewesen.

So oder so ähnlich könnte die Rede einer Tochter am Grab ihres Vaters klingen. Doch Roman Steinberg hat mich morgens nie geweckt, keinen Kaffee mit mir getrunken, mir seine Träume nicht erzählt. Wir hatten keine Geheimnisse und feierten keine Feste. Da war keine Verschworenheit, kein stilles Einverständnis, nichts Gemeinsames.

Vielleicht wäre das aber schön gewesen.

An einem sonnigen Nachmittag des Jahres neunzehnhundertneunzehn sitzt Charlotte, die später einmal Romans Mutter und noch später Valeries Omi sein wird, unter dem Nussbaum im Garten der elterlichen Villa, neben sich eine kleine Gießkanne und ein Korb mit Murmeln. Sie nimmt die Murmeln vorsichtig aus dem Korb, legt sie ins Gras, lässt Wasser aus der Gießkanne auf sie regnen. Wo Sonnenstrahlen die nassen Murmeln treffen, glänzen sie wie Edelsteine. Aus dem Ärmel ihres Kleides holt Charlotte ein Taschentuch hervor, entfaltet es, hockt sich zu den Murmeln und poliert eine nach der anderen, bevor sie sie wieder in den Korb legt.

Als sie den Fremden mit dem leeren Blick bemerkt, ist er bereits gefährlich nahe. Charlotte springt auf und rennt. Außer Atem erreicht sie den Dienstboteneingang, trommelt gegen die Tür, das Küchenmädchen öffnet. Bevor Fragen gestellt werden können, ist sie schon die Holzstiegen aus der Küche hinauf ins Speisezimmer, weiter in den Flur, zur breiten Treppe, die in die Schlafzimmer im zweiten Stock führt. Der rote Läufer schluckt ihre Schritte. Endlich oben, stürmt sie ins Zimmer ihres älteren Bruders Arthur. Während sie noch nach Worten ringt, steht plötzlich auch die Mutter in der Tür.

»Euer Vater ist zurück«, sagt sie leise.

Dass der Krieg vorbei ist, hat Arthur Charlotte schon erzählt, ihr erklärt, warum das gut und schlecht zugleich sei.

»Schlecht, weil Österreich den Krieg verloren hat und weil ohne Krieg keiner mehr Uniformen und ohne Uniformen keiner mehr Uniformknöpfe aus unserer Fabrik braucht. Gut, weil der Vater heimkommt.«

Unter Krieg kann Charlotte sich wenig vorstellen, aber die Fabrik kennt sie und auch die Knöpfe, von denen sie, wenn sie mit der Mutter dort ist und beim Herrn Prokuristen im Bureau wartet, immer ein paar mitnehmen darf.

Den Vater kennt sie nicht. Als er sich zum Kriegsdienst meldete, war sie erst zwei Jahre alt, sie erinnert sich nicht an ihn; alles, was sie über ihn weiß, weiß sie von Arthur, der damals schon fast ein Schulkind war.

»Groß und stark ist er, rumtollen kannst mit ihm. Nicht so fad wie die Mama, viel lustiger.«

Charlotte überlegt, wie das zu dem Mann passen soll, vor dem sie gerade davongelaufen ist.

»Ist es auch sicher der Vater?«, fragt sie deshalb die Mutter, die erstaunt antwortet: »Ja, Lotti. Ganz sicher.«

Die Mutter mag ganz sicher sein, dass der Mann, der plötzlich das Kommando im Haus übernommen hat, Charlottes Vater ist. Charlotte kann es auch Monate nach seiner Rückkehr noch nicht so recht glauben. Groß ist er, das passt zu Arthurs Beschreibung, aber dünn, die Schultern gebeugt. Sie hat sich den Vater immer wie einen stolzen Ritter vorgestellt, doch dieser Mann sieht wie ein trauriger Riese aus; von Rumtollen und lustig kann überhaupt keine Rede sein. Eher scheint es, als wäre mit der Rückkehr des Vaters das Lachen aus dem Haus verschwunden.

Anders als bisher muss die Mutter nicht mehr frühmorgens ins Bureau, um die Korrespondenz zu erledigen und dringende Entscheidungen zu treffen. Statt morgens von Arthur geweckt zu werden und mit ihm barfuß und im Schlafgewand durch das kühle, im Winter eiskalte Haus in die Küche zu jagen, wo das Küchenmädchen sie in warme Wolldecken wickelt und ein Frühstück kocht, wird Charlotte jetzt von der Mutter geweckt. Sie muss sich ankleiden, wird frisiert und sitzt pünktlich um sieben Uhr mit Mutter, Vater und Bruder am großen Tisch des Speisezimmers, um das Frühstück einzunehmen. Auch die nachmittäglichen Besuche in der Fabrik, zu denen Charlotte ihre Mutter manchmal begleiten durfte, gehören nun der Vergangenheit an. Das Kinderfräulein kommt nur mehr selten, an die Stelle ausgelassenen Spiels tritt Erziehung, welche die Mutter, so hört Charlotte es den Vater sagen, in den Jahren seiner Abwesenheit vernachlässigt hat. Französisch, Klavierunterricht, Benehmen. Unter jedem Arm ein dünnes Buch eingeklemmt und ein dickeres auf dem Kopf. Gerade halten und einen ganzen Teller Suppe essen, ohne dass die Bücher zu Boden fallen. Mittagessen im Speisezimmer. Bei Tisch darf nicht gelacht werden; Kinder sprechen nur, wenn man sie etwas fragt. Nach dem Essen hält der Vater eine Stunde Mittagsruhe, danach trinkt er im Salon mit der Mutter Kaffee. Charlotte muss sich bereithalten, falls er sie zu sprechen wünscht, und kann deshalb nicht im Garten spielen. Das Abendbrot, seit Charlotte denken kann gemeinsam mit der Mutter eingenommen und Gelegenheit, einander alles zu erzählen, was am Tag erlebt, gefühlt, gedacht wurde, essen die Geschwister jetzt mit dem Mädchen in der Küche. Mutter und Vater soupieren zu zweit im Salon. Deshalb sitzen sie abends auch nicht mehr zu dritt auf Arthurs Bett, und die Mutter liest vor, bis Charlottes Augen schwer werden. Jetzt bekommen sie im Salon Gutenachtküsse, einen von der Mutter und einen vom Vater.

Wenn der Vater Charlotte seinen Gutenachtkuss auf die Stirn drückt, ballt sie hinter dem Rücken die Fäuste. Nur so kann sie dem Drang, wegzulaufen, widerstehen. Seit dem Schreck der ersten Begegnung ist ihr der Vater nicht weniger fremd geworden. Seine tiefe Stimme, die sie oft zurechtweist, und seine großen Hände, mit denen er ihr auf die Finger schlägt, wenn sie eine freche Antwort gibt oder im falschen Moment lacht, machen ihn ihr immer nur noch unheimlicher.

Auch Arthur und die Mutter haben vor dem Vater Angst. Das erkennt Charlotte daran, wie sie ihn stets beobachten, achtgeben, nichts zu tun oder zu sagen, das ihm ein Ärgernis sein könnte.

Vielleicht hat sogar der Vater selbst vor sich Angst. Nur so kann Charlotte sich erklären, warum er jede Nacht im Traum so laut brüllt, dass sie hochschreckt und lange nicht mehr einschlafen kann.

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